Sonnenfinsternis

Koinzidenzen sind seltsame Phänomene, von denen man viel lernen kann. Die einen zum Beispiel wissen, dass es sie nicht gibt, die anderen, dass das Dasein ausschließlich aus Koinzidenzen besteht. Erfahrung ist eine Kette von Koinzidenzen, wenn man es naturwissenschaftlich betrachtet, nämlich das Zusammentreffen (con-in-cidere? oder wie war das) von Ereignissen und Wahrnehmung - und somit auch Wahrnehmendem.

Ich lese gerade 'Die Entdeckung des Himmels' von Harry Mulisch und erwarte die baldige Verfinsterung desselben. Im Buch koinzidiert die Errichtung eines Radioteleskops in den Niederlanden mit der Erinnerung an Deportationen, und im All der Sternchen, die auf Lagerkleidung genäht waren, fragt sich, was wir noch im Himmel zu entdecken hoffen, wenn nicht das, was wir hier auf der Erde systematisch vernichtet haben.

Das ganze koinzidiert mit der Erfahrung, dass man als weitsichtiger oder umsichtiger Mensch nicht unbedingt das Naheliegende zur Kenntnis nimmt. Beim Lesen kann man das ja mit einer Brille korrigieren, im Leben vielleicht nicht. Da hilft Nebel, denn Nebel vernebelt das, was weit entfernt ist und schärft damit den Blick für das, was man mit den Händen tut. Wie sagt man noch: er konnte die Hände (nicht) vor Augen sehen.

Mir fiel auf, dass in unseren Breiten nebelige Wetterlagen häufig mal mit Sonnen- und Mondfinsternissen korrelieren, und wenn die Sonne finster wird, dann wird es für gewöhnlich auch dunkel, was Menschen beunruhigt, die nicht wissen oder sehen, dass es hinterher wieder hell werden wird. Das ist alles sehr schön bildhaft, und es schärft den Blick für das, was einem wichtig ist. Oder wichtig erscheint und dann plötzlich partiell zumindest abgedeckt werden wird.

Es wird dunkel, und es wird hell. Gleichzeitig manchmal. Das nennt man Koinzidenz, das Zusammenfallen. Menschen können, um den Faden derjenigen aufzunehmen, die partout an Koinzidenzen nicht glauben wollen, ohne Koinzidenzen überhaupt nichts wahrnehmen. Denn: Wahrnehmung ist das Feststellen einer Koinzidenz. Im Gehirn zum Beispiel zellular. Es fällt die Reizung eines Nervenendes zusammen mit der Anregung einer Synapse. Ein offenes Tor fällt zusammen mit dem Eintreffen eines reitenden Boten. Der König erhält seine Post.

Mich erreichte eine sehr schöne Nachricht aus Spanien, Schläge auf den Kopf und die Erkenntnis, dass derjenige, den beides nicht erreichte, eben auch nichts aus der Sache gelernt hat. Womit erklärt ist, warum jemand Schläge auf den Kopf austeilt: WEIL er nichts gelernt hat. Koinzidenz ist ein Prozess, der sich in Herders Wahrnehmungsspirale ereignet. Man lernt, indem man gelerntes mit dem Neuen in Verbindung setzt.

Sonnenfinsternisse korrelieren häufig auch, wie ich finde, mit neuen Perspektiven. Erde, Sonne und Mond stehen in einer Linie. Sie zeigen in eine Richtung. Und der, der dann in diese Richtung schaut, steht mit seinem Kopf ganz genau auf dieser Linie. Was hinter und was vor einem liegt, kann man ganz leicht selbst bestimmen.

Harry Mulisch spielt gekonnt mit dieser Zeitachse, auf der wir aufgefädelt sind, verstrickt, oder auf der wir wie auf einem Drahtseil balancieren. Und mich beschäftigt der Gedanke daran. Denn meine letzten Bücher spielen in Spanien. Und dann das Telefonat mit der Ankündigung. Wird wohl Zeit, dass ich da bald wieder selbst hinkomme. Möglicherweise nämlich als Reiseleiter. Auch diese Erfahrung ist bei Vincent & Corelli schon vorweg genommen. Wie sich das für echte Schriftsteller gehört.

Vorausschauend denken. Denkend vorausschauen? Granada, Sevilla, Málaga ... haha! Sonne