Ein Schaf blökt
Die menschliche Erinnerung ist dreistufig organisiert. Wir haben ein Kurzzeitgedächtnis, ein mittleres und ein Langzeitgedächtnis. Alle drei Teile sind wesentliche Voraussetzung für eine weitere Fähigkeit, nämlich das Denken .. Merken und das Bewusstsein. Genauso wenig wie ein Computer nämlich ohne Flash, Auslagerungsdatei und Festplatte auch nur als Taschenrechner arbeiten kann, genauso wenig funktioniert menschliches Denken in allen Varianten ohne die Voraussetzung der Erinnerung. Menschliches Denken könnte man als die Organisation von Erinnerungen bezeichnen, womit es in auffälliger Ähnlichkeit zum historischen Organisieren, also zur Geschichtsschreibung steht.
Ein Vorfall ist zunächst mal nichts, bevor er bemerkt wird. Die erste Stufe der Verfestigung von Informationen beim Denken also wird wie in der Geschichtsschreibung darin bestehen, dass jemand ein Faktum bemerkt und in fixierender Form zur Kenntnis nimmt. Der Mensch hat eine ganze Bandbreite von Methoden entwickelt, Dinge wahr zu nehmen. Kant hat sich damit in der Kathegorienlehre beschäftigt, Herder und andere. Wie läuft das ab?
Ein Schaf blöket und wir erkennen ein Schaf. Vorher war es nur ein zottiges Tier. Dahinter steht die Schematisierung, die es ermöglicht, Informationen aus dem Gesamten heraus zu filtern, das so reichhaltig an Informationen ist, dass diese sich selbst gegenseitig ersticken. In einer Schafherde gibt es schließlich auch Hunde. Hätte ein zottiges Tier gebellt, wäre es wohl kein Schaf gewesen.
In einer Schlacht, in der zehntausend Römer sterben, tötet Gaius Quintus Publicus seinen Widersacher Camillus Septus mit dem Speer. Es hat niemand bemerkt, obwohl Tausende bemerkten, dass Camillus starb. Weil aber sein Tod ein winziges Fragment einer Katastrophe war, bemerkt ihn keiner. Herdenwesen.
Die Kategorie des Mordes wird also nur dann angewandt, wenn das Faktum seines Fehlens in einem so großen Heer überhaupt bemerkt worden ist, und wenn andererseits sein Tod in Verbindung gebracht wurde mit dem Einwirken eines anderen. Die logische Verbindung aus beiden ist ein dritter Wesenszug menschlichen Denkens. Wir bilden Ausschnitte und verknüpfen sie zu einem neuen Ganzen. Somit ist die Art und Form der Ausschnitte wichtig und die Art und Weise, in der wir sie zusammen sehen.
Erinnerung ist diesem Prozess unterworfen. Wir sehen einen Baum. In der Erinnerung ist dies nicht ein spezieller, sondern meist nur die Kategorie. Wir erinnern uns, einen Baum gesehen zu haben. Fragt uns jemand nach diesem Baum, dann beschreiben wir irgendeinen und schmücken ihn mit den Intarsien der Besonderheit. Da stand ein Baum, der war zusätzlich zu seiner Eigenschaft als Baum auch noch groß, hatte Nadeln und ein Eichhörnchen saß auf dem dritten Ast. So würden wir ein Bild malen, so würden wir es allerdings auch sehen, wenn wir es erinnerten.
Eine Szene in Frankreich. Dort ist ein Baum, darunter eine Familie, die glücklich frühstückt und auf dem Tisch steht Leichtfettmargarine. Das Bild ist da und wird vom Gehirn entworfen; wie ein Mediengestalter, wenn man ihn aufforderte, ein Plakat zu malen, in sein Archiv ginge, einen Baum suchte, eine Margarineschachtel, eine Familie, einen Tisch und alles zu einer Kollage kombinierte.
Später dann wird sich ergeben, dass solche Bäume in Frankreich nicht wachsen, Margarine dort nicht verwendet wurde zu jener Zeit, und der Tisch in Wahrheit eine Wachstuchdecke war. Man zeichnet von Neuem und erhält ein ganz anderes Bild. Die Erinnerung ist bereits zwei Wege gegangen, aber das Faktum war gleich. Vor Gericht gäbe das einen schönen Streit. Ergebnis gleich gar nichts. Denn die Erinnerung ist unser Schatz, den wir nicht aufgeben können. Wir werden ihn hüten und verteidigen. Beide Parteien, oder wenn es mehrere sind, eben alle, werden widersprüchliche Erinnerungen als Absolutum nehmen, und eine Verständigung darüber wird nicht gelingen. Möglicherweise auf Basis des gemeinsamen Nenners: Baum, Tisch, Familie.
Pressearbeit soll so gehen. Die Kernfragen: Wer wo wann was warum und so weiter. Aber bereits in der Frage des Warum werden die Dinge in eine willkürliche Ordnung gestellt, die jedes Individuum im Moment der Auffassung selbst zu bestimmen hat. Ein
Eidetiker beispielsweise wird einen Unfall an einer Bahnschranke anders beschreiben und speichern als ein Historiker, ein Biologe oder ein Physiker. Jeder nimmt seine eigenen Werkzeuge zur Grundlage, die Dinge in einen Zusammenhang zu setzen.
Ein Beispiel ist der Dreißigjährige Krieg. Wer war eher: Luther oder der Krieg? Ein Buchhalter wird sofort die Zahlen nennen, in denen er keinen Zusammenhang sieht. Den muss man sich dann errechnen: aha, Luther zuerst. Der Historiker wird die Kausalität von religiösen Verwerfungen und deren Folgen in Luther und dem Krieg kristallisiert sehen und daher die Ursache vor die Wirkung setzen.
Nun kommen die Theoretiker und werfen die Frage auf, wann denn überhaupt diese Verbindung zwischen Glauben und Krieg geschaffen wurde, und da wird es dann heikel. Denn es könnte sein, dass diese Verbindung nur in den Augen des Geschichtslehrers existiert und der Dreißigjährige Krieg lediglich ein mit religiösen Motiven bemäntelter Kampf um Macht und Ressourcen war. Oder es mischten sich die Motive. Vielleicht hätte dieser Krieg auch ohne Luther stattgefunden und wäre dann zwischen Moslems und Christen ausgebrochen. Die Schweden wären Amerikaner gewesen und die Bayern Fundamentalisten.
Wenn man Afghanistan betrachtet, könnte ein neuzeitlicher Journalist zum Dreißigjährigen Krieg auch rückwirkend gut die Frage stellen: War das überhaupt ein Krieg? Oder eine dauerhafte Destabilisierungskampagne? Oder ein Frieden mit punktuellem kriegerischem Lokalkolorit? Eine fortgesetzte Strafexpedition zur Restitution der alten Werte?
Solche Dinge in ein historisches Raster einzuordnen, bedeutet Wahrnehmung im ureigensten menschlichen Sinn. Und sie ist nicht abgeschlossen. Einerseits wird immer wieder etwas Neues aufkommen, das eine grundsätzlich abweichende Deutung zulässt, Diskussionen nach sich zieht und unser Weltbild verändert. Andererseits wird auch nie ein Konsens herrschen über das, was gewusst oder vergessen wird. Und seine Bewertung. Schlussendlich wird alles und das auch wieder nach Schema vergessen.
Der Physiker bringt in den Wahrnehmungsprozess noch eine fatale letzte Komponente. Es ist nämlich mathematisch nachweisbar so, dass wir die Fakten nicht in der großen Informationssuppe schwimmen sehen wie Buchstaben aus Nudelteig, sondern dass wir sie in ein Chaos hinein-sehen.
Wir organisieren durch Wahrnehmung erst einen Vorgang in einem informationslosen Fluidum, das wir als Rohstoff für unser Denken nehmen. Information entsteht im Moment der Information. Und von diesem Moment an ist sie ein eigengesetzliches Faktum. Man kann in einem quantenmechanischen System willkürlich eine Vorzugsrichtung für magnetische Orientierungen geben und wird danach feststellen, dass alle quantenmechanischen Zustände ab diesem Moment einen Spin tragen, der sich an dieser willkürlichen Orientierung misst. Als hätten die Teilchen bemerkt, dass sie sich von nun an entscheiden müssten.
Es ist eine Frage des Bezugssystems. Genauso wäre es nämlich möglich, dass ein anderer Physiker anhand der selben Anordnung mit einer anderen Vorzugsrichtung rechnet und ganz andere, im phänomenologischen Sinn aber wieder identische Unterscheidungsraster für seinen Spin entdeckt. Quasi so, als würden Kinder beim Fußballspiel auf der Straße das Tor zwischen zwei Stöckchen legen und ein Betrachter vom Balkon aus sähe es zwischen zwei benachbarten Mülltonnen. Das Spiel wäre gleich, die Anzahl der Tore vermutlich auf lange Sicht ähnlich, aber die Beschreibung der Ereignisse hätte ganz neue Aspekte gewonnen.
Ich denke an einen Kommentator, der ein Tennismatch kommentiert, das der Sportsender auf eine Snookerpartie legt. Der Zuschauer würde dennoch versuchen, Bilder und Text in einen sinnvollen Einklang zu bringen. Man muss sich für eine Mannschaft entscheiden und weiß nicht: die mit dem Mercedesstern, die blauen, die roten, die blonden, die kleinen, die Frauen, die Mageren, die Linken, die Rechten, oder einfach die, die nach Meinung aller die besseren sind?
Das alles erinnert mich in fataler Weise an die aktuellen politischen Ereignisse. Fast schon wert, ein Buch drüber zu schreiben.
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