Pilzekrieg (eBook)
Es kommt über mich. Es beherrscht mich. Es läßt sich ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr kontrollieren. Es ist furchtbar. Es geht mit einem Burger los. Ich bestelle einen Burger. Nur diesen Burger, sonst nichts. Ein Coke dazu. Klar, Burger und Coke, Coke und Burger. Ich habe da was zu verdauen. Ich bestelle Coke und Burger. Coke und Burger sind kein Essen, es ist ein Lebensgefühl. Es ist ganz leicht. Das brauche ich jetzt. Ein ganz dünnes, leichtverdauliches, leichtes Lebensgefühl. Einen Snack. Coke und Burger. Ah! Ich esse was. Ganz gelassen. Mit Genuß. Es belastet mich nicht. Ich denke an Chilli Palmer und Vincent Vega dabei. Die wissen, was gut ist. Coke und Burger. Ja. Ich verdränge den Gedanken an den Sicherheitsgurt im Polizeiwagen, den ich nur einrasten lassen konnte, wenn ich ihn bis zum Anschlag aufzog. Schnee von Gestern. Unwichtig. Was da gesagt wurde, erst recht. Die Kassette, ha! Nach jedem Bissen wische ich mir mit der Serviette Krümel vom Mund. Ich denke über die Dinge nach, und sie werden unwichtig und klein. Überhaupt ist drüben alles viel leichter in Amiland. So werde ich es machen – für den Rest meines Lebens werde ich alles leicht nehmen. Ich werde leichte Sachen mit Genuß und Ruhe essen. Ich werde nichts in mich hineinfressen. Nichts. Ich werde mein Leben genießen. Vielleicht fahre ich mal rüber ...
Ich esse. Ich genieße. Ich zahle. Ja, das war gut. Ich habe mich im Griff. So war das gut. Ich esse, ich zahle. Nur den Burger. Gut, daß ich diesen Marktkiosk gesehen habe! Der hat mich aufgebaut. Kaum war ich aus dem Polizeiwagen raus, sah ich diesen Marktkiosk. Ich hatte was zu verdauen. Jetzt ist es gut. Ach, und: Jules Winnfield heißt der Schwarze aus Pulp Fiction, der mit dem Burger. Fällt mir gerade wieder ein. Mein Kopf funktioniert also auch wieder einwandfrei. Jules Winnfield, Coke und Burger. Alles wird gut. Gut, so ein Essen. Wirklich gut. Ich blicke auf die Uhr und sehe, daß aller Wahrscheinlichkeit nach drüben, im Krankenhaus, das Mittagessen schon vorüber ist. Dann denke ich: Mist. Vielleicht sollte ich mir doch noch eine Kleinigkeit mit auf den Weg nehmen, denke ich mir. Dabei stehe ich schon draußen. Und bin schon auf dem Rückweg. Ich habe mich im Griff. Ich denke mir, daß ich es vielleicht auch lieber nicht machen sollte, denn wenn ich es täte, dann käme Es vielleicht über mich. Und ich hätte mich nicht im Griff. Und ich weiß ja, wie schnell es über mich kommt.
Ich darf es nicht über mich kommen lassen. Denn manchmal kommt etwas hoch, und ich esse, damit es unten bleibt. Eigentlich will ich es ja. Ich will nicht, daß es über mich kommt, das nicht, ich will nur diese eine Portion Pommes für den Weg. Ich weiß nicht, warum ich darauf verzichten sollte? Warum? Muß ich jetzt alle Probleme meines Lebens auf einmal lösen? Ich hatte mich gerade prima im Griff. Ich bin gut drauf und Abgemagerte Dicke sterben früher. Habe ich mich nicht gerade prima im Griff gehabt? Will ich meine Lebenserwartung runterfahren, nur um fremden Schönheitsidealen zu entsprechen?
Das schaffe ich sowieso nicht mehr in diesem Leben. Meine Hautsäcke werde ich doch niemals mehr los. Warum also verzichten? Das ist die Sache nicht wert. In kleinen Schritten kommt man ans Ziel. Hauptsache man macht sie. Einen Schritt nach dem anderen. Soll ich jetzt verzichten oder nicht? Nein, denke ich plötzlich, allein dieser Gedankengang verrät es: es ist eigentlich schon längst über mich gekommen, und alles, was ich jetzt noch tue, ist nur Alibi. Besser wäre es für mich. Es wäre besser, wenn ich es lassen könnte. Ich sollte einfach weggehen und einen Anfang machen. Ich werde keine Portion Pommes mitnehmen. Vielleicht ist das Mittagessen ja noch nicht vorbei.
Doch das, denke ich nach zwei Schritten, wird mir auch nicht helfen. Es ist vorbei. Ich kenne mich. In einer Stunde stehe ich wieder hier, am Eingang dieses Marktkiosks, und bettele um eine Portion Pommes. Und wenn ich sie mir jetzt versage, wird es gleich, in einer Stunde, eine große Portion sein, eine kleine wird mir dann nicht mehr reichen. Und was wäre, wenn dann, in einer Stunde, der Kiosk geschlossen wäre? Warum soll ich der einzige auf dieser beschissenen Welt sein, der heute mittag nichts zu essen bekommt? Und einen Bauch voll Probleme? Warum? Ich kenne das Gefühl. Ich weiß, wie es ist. Ich werde wütend. Das ist der Absturz. Wenn du etwas willst, nur etwas unbedeutendes, und es geht nicht. Weil der Kiosk dann zu hat. Oder weil die Küche zwischendurch schließt. Vielleicht gibt es dann nur noch Cola und kalte Frikadellen, und das macht fett. Das ist dann wirklich der Absturz. Das ist Es.
Es ist so gut wie da. Es kommt. Es kommt über mich. Es ist stark. Es ist da. Ich habe Hunger. Wo also lag der Fehler? Es ging doch alles gut bis jetzt. Und warum denke ich darüber nach? Es ist schön hier draußen. Gibt ja noch andere Qualitäten im Leben. Der Tag läuft gut. Warum jetzt verzweifeln?
Weil der Tag in Wirklichkeit beschissen läuft. Mach dir nichts vor! Ich brauche ein Programm, ein Programm für die Zukunft. Der Fehler war: Ich hätte nicht auf die Uhr sehen dürfen. Jetzt habe ich Hunger. Das war der Fehler. Hätte ich nicht auf die Uhr gesehen, wäre nichts passiert. Damit wurde der alte Drachen geweckt, der Hunger. Ich habe den Fehler erkannt, ich kann ihn in der Zukunft vermeiden. Ich bin in Wirklichkeit schon ein gutes Stück weiter als vor ein paar Stunden. Jetzt esse ich was.
Ich gehe zurück. Ich gehe wieder rein in diesen Kiosk. Ich habe eine Menge geschafft für heute. Ich stehe an der Theke. Ich denke über das nächste Mal nach. Zufrieden und entspannt. Jetzt hilft es nichts mehr, sich selbst anzuklagen, aber für's nächste Mal weiß ich Bescheid. Schau nicht auf die Uhr beim nächsten Mal! Ich werde mir also eine kleine Portion Pommes mitnehmen. Das wird nicht schaden. Eine kleine Portion. Nur eine kleine. Ich werde eine kleine Portion Pommes mitnehmen. Ich werde sie mit Ruhe essen, Stück für Stück und ohne Eile. Eine kleine Portion. Ganz sicher werde ich mich nicht vollfressen.
Au, au, noch während ich mich zum Kellner umwende, spüre ich, wie es langsam über mich kommt. Es ist die Gewißheit, daß es nichts nützt, sich zu kasteien und zu quälen. Es ist überflüssig, denn ob ich esse oder nicht, es ändert nichts. Ich habe es schließlich probiert, habe mehrere Tage gefastet. Es hilft mir nicht. Es ist nur Alibi. Man hat mich verletzt, und jetzt muß ich es kompensieren. Das ist in Wirklichkeit der Grund. Es ist besser zu essen. Es ist ehrlich, es ist gut, es ist richtig, es ist notwendig, es ist gesund, es ... es geht mir im Kopf rund. Nein, nein, nein! Sage ich und spüre, wie Es größer wird. Und stärker.
Es wird mir heiß und kalt. Wenn du jetzt die Karte rauf und runter bestellst! Dann hast du dich vollkommen aufgegeben. Nur theoretisch, ein theoretischer Gedankengang. Nein, ich werde es nicht tun, natürlich nicht. Ich gebe mich nicht auf. So schnell nicht. Ich bestelle eine kleine Portion Pommes-Frites. Ich fange jetzt hier nicht an zu fressen. Ich fresse nichts mehr in mich rein. Ich sage nur: wenn ich es jetzt täte, das wäre der Absturz, das wäre er. Ich würde es bereuen, ich würde mich schämen, ich hätte wieder einmal versagt. Das könnte ich dann nicht mehr leugnen. Deswegen werde ich es ja auch nicht tun.
Aber warum warten? Und worauf? Warum nicht versagen? Und wer sagt, daß es wirklich ein Versagen ist? Rede ich mir das nicht selber ein? Habe ich nicht lange genug dagegen angekämpft? Jeder andere hätte längst aufgegeben. Ich bin nicht stark genug gegen Es. Ich werde unterliegen. Ich habe gekämpft. Ich habe verloren. So gut wie. Es wird über mich kommen. Ich werde es nicht verhindern können. Es wird wieder einmal über mich kommen. Es ist in Wirklichkeit schon da.
Schnell, schnell. Irgend etwas positives muß ich aus diesem Tag herausholen! Einen Salat vielleicht. Salat als Vorspeise. Dann ist der Magen gefüllt, und es kann nichts mehr passieren. Salat als Vorspeise. Und es wird nichts passieren. Ich muß etwas tun, sonst kommt es sicher. Den Salat nehmen, auf jeden Fall. Ich muß eine Vorspeise nehmen, denn ich werde ja doch – mach dir nichts vor – du wirst ja doch essen. Nein! Ich werde bei den Pommes bleiben, vielleicht eine große Portion, kein Schaschlik dazu, und dann bis zum Abend nichts mehr. Kein Schaschlik, kein Schaschlik. Auch wenn es mich anlacht. Kein Schaschlik.
Allerdings habe ich heute nichts gefrühstückt. Einen kleinen Salat also mit eim Büschen Dressing dran wird nicht schaden. Ich werde es heute mal genießen. Ich werde es genießen, wenig Nahrung genußvoll zu mir zu nehmen. Ich habe lange genug dagegen angekämpft. Allein wenn ich bedenke, wieviel Spaß mir dieser eine Burger vorhin gemacht hat und diese eine Coke, dann läßt sich erahnen, was für ein Fest das wird, einen ganzen Salat zu essen und eine Portion Pommes. Ja, das beides.
»Was darf's sein?«
Knäckebrot. Ich sollte auf Knäckebrot umsteigen. Ich könnte dann Salat essen bis zum Umfallen, und eine Stunde später wäre alles weg. Knäckebrot, Salat und Pommes. Ballaststoffe. Die Zukunft winkt. Ich habe wirklich einen Fortschritt gemacht. Einen kleinen. Mental.
»Was darf's sein? Oder wollen Sie nur was trinken?«
Das wäre eine Nummer: Aufgebrochen zur Magenoperation – und dann mit Salat und Körnern geheilt. Wenn ich's genau nehme, haben mich Körner immer schon gereizt. Sesam, geröstet, Sonnenblumenkerne, Kürbiskernbrot! Das ist ein Genuß. Ich muß einfach mein Leben lebenswerter machen. Süße, schwere Nahrung war ja wirklich nie mein Ding. Aber dafür mit gesunder Nahrung nicht sparen. Sich nicht quälen auf Teufel-komm-raus! Und Pfunde verlieren, jeden Tag!
»Wollen Sie jetzt was bestellen?«
Kein Gramm Fett zuviel. Auf den Rippen. Kein Gramm Fett. Ich stehe noch einen Moment da. Es ist eines der erniedrigendsten Gefühle. Ich spüre es. Es kommt über mich. Es ist schon da. Ich spüre es, häßlich wie es ist, und daß ich es nicht ertrage. Es muß enden. Jetzt. Und sei es durch einen harten Schnitt.
»Salat«, sage ich, »Schaschlik, Pommes, doppelte Portion, beides, Majonaise, Cola, so ein Törtchen hier, die mit der Walnuß drauf, Kaffee mit Milch und Zucker und eine Frikadelle mit Senf.«
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