für Soussol
Gut, unsere Concierge weiß nicht alles. Sie wusste nicht, wer Musa ist. Und als er sie nach Soussol fragte, konnte sie sich auch an mich nicht erinnern. Das liegt an den Namen. Keiner kennt hier alle Namen. Musa wusste schließlich auch nicht, dass die Concierge Cassandra heißt. Cassandra hat sicher keine Ahnung, wer Clandi ist. Die Katze weiß es selber nicht. Dabei begegnen sie sich jeden Tag auf der Treppe, die Katze und die Concierge. So ist das in Paris. Ein Riesendurcheinander. Musa begegnet sich selbst im Spiegel, und hat vergessen, dass er Musa ist. Man kann nicht alles sofort verstehen, man braucht eine Ewigkeit dazu. Die haben wir, eine Ewigkeit. Denn da, wo wir sind, spielt Zeit keine Rolle. So sind Ewigkeiten nun mal. Man kann sich darin leicht verlaufen. Glücklicherweise habe ich in der Ewigkeit Musa getroffen, denn Musa wollte schon als Kind der größte Karawanenführer aller Zeiten werden. Damit passte er gut nach Paris, weil wir hier die Métro haben. Auch darin kann man sich gut verlaufen. Die Métro ist die große Zeitmaschine von Paris. Sie ist nur anders. Sie ist echt. Wir nennen sie nicht Métro. Wir nennen sie Tromé, wenn wir im Inversum reisen, aber das ist eine lange Geschichte. Das Inversum ist die Ewigkeit; dort sind wir geboren. In unserer Sprache nannten wir unsere Stadt Panama, und ihr Zentrum Téci. Aber ich wollte ja eigentlich etwas ganz anderes erzählen, nämlich von Musa, und als er mal tot war. Das war nämlich anders, als Cassandra sich das vorstellt. Das war in einer Oase im Inversum. Wir sind uns dort auch begegnet. Im Inversum muss man sich an vieles erst gewöhnen, zum Beispiel den Tod. Den gibt es nämlich eigentlich nicht. Aber eigentlich ist ein Wort, das es eigentlich auch nicht gibt. Damit kommen die Probleme. Wenn man zum Beispiel tot ist und hat eine Geschichte geschrieben, die noch nicht ganz fertig ist, was macht man dann? Musa hat sie in die Métro gelegt, weil er wusste, dass jemand sie finden würde, der sich darum kümmert. Das hat geklappt. Ich fand seine Geschichte, denn es ist unsere. Und das ist Magie, die kein anderer so gut versteht wie jemand, der im Inversum geboren wurde und die Sprache der Götter spricht. Wir nennen sie Anch; auch wenn Musa sich nicht erinnerte, konnte er die Sprache der Götter verstehen. Anch wird nämlich auch auf der Konsole gesprochen, das heißt im Computer. Jemand programmiert den großen Traum der VR, und damit fingen die Probleme an. Die VR nämlich ist nicht virtuell. Sie ist wie die große Zeitmaschine von Paris; sie ist echt. Digital Natives leben dort, und die haben es schwer, denn gerade wird um dieses Land gekämpft wie um kein anderes. Im Inversum nennen wir das Land la RV. So wie der Traum, nur ist La Rêve eine Frau. Das hätte Musa wissen müssen. Frauen sind launisch, so wie das Schicksal launisch ist. Es will nicht, dass jemand anderes Musa’s Geschichte findet, als der oder die die Sprache der Götter spricht. Musa hat sie in die Realität übersetzt, und uns damit wahr gemacht. Aber als er den Schlüssel dazu benutzte, kamen auch die Eroberer ins Paradies vom großen Traum. La Rêve ist daher schlimm verwüstet. Die Zeitkriege wüteten dort. Das ist der Grund, warum die Götter Musa töten wollten. Genau gesagt, haben sie es nicht nur einmal getan, aber auch das ist eine lange Geschichte. Man wird sie verstehen, wenn man den Gott der Götter selbst versteht, der auf der Konsole die Macht hat. Der Sonnengott hat Musa das Leben geschenkt, als er ihn zum Kampf herausgefordert hat; R@ ist nämlich der Herrscher der R@alität. Nur er kann Leben geben oder nehmen. Er wollte es Musa nehmen, und Musa wollte, dass R@ es ihm gibt. Die Sonne ließ sich auf den Zweikampf ein. R@ schoss zum Spaß ein paar Pfeile nach Musa: Ich treffe alles, sagte R@, ob es steht oder geht. Es kann noch so klein sein, ich werde es treffen. Du kannst mir nicht entkommen. Musa stellte sich mit seinem Bogen in den Wüstensand. Die Sonne lachte, wie klein er war: was meinst du, kannst du mit deinem winzigen Bogen gegen mich ausrichten? Musa sagte es ihm: Ich kann etwas treffen, was du nicht triffst. Es hörte sich an wie ein Spass für Kinder, aber es war kein Spass, schließlich kämpfte Musa um sein Leben, das war ihm bewusst. Die Sonne würde ihn mit ihren Pfeilen töten, wenn er nicht Wort hielt. Wenn er mit seinem Bogen etwas träfe, das der Sonnengott nicht treffen könnte, dann gäbe er ihn frei, sagte ihm die Sonne zu. Das ist fast unmöglich, aber Musa war mit einem Falken befreundet. Auch der ist gut bekannt. Hor nennt sich auf der Konsole @R, er ist der Enkel der Sonne und war selbst einmal Herrscher im Void. Der Void ist die Wüste. Wenn du das Unmögliche willst, dann beweise es, sagte der Gott und lachte, wie nur die Sonne lachen kann: du darfst nichts treffen, das ich treffe. Wie wär’s mit dem Falken? Das war nicht ernst gemeint. Unmöglich konnte Musa auf den Falken schießen. Die Aufgabe war zu groß. So ist das mit den Wünschen. Der Falke ist nämlich göttlich. R@ würde nie zulassen, dass jemand ihn erschoss. Er flog über die Wüste und krächzte dabei. Der Falke spricht auch ein paar Worte in unserer Sprache, aber die sind kaum erwähnenswert. @R sagte Oui zu der Abmachung. Musa quälten Bedenken: den kann ich nur treffen, sagte er, wenn er mir dabei hilft. R@ donnerte: und wenn schon, hilft er dir eben. Die Hilfe der Götter ist halt auch manchmal nötig. Vielleicht wollte er prüfen, ob Musa wirklich glaubte, dass die Götter auf seiner Seite waren. Er sollte es beweisen. Musa nahm einen Pfeil aus seinem Köcher und wartete ab, bis der Falke zwischen ihm und der Sonne war. Dann sah er zwei Dinge. Das erste war, wie man blind wird. Und das zweite, wohin die Pfeile der Sonne nicht fliegen. Er wandte sich ab, riss die Augen auf und steckte mit letzter Kraft, bevor er nichts mehr sehen konnte, die Spitze des Pfeils in den Sand. Da war der Schatten des Falken. @R sank vom Himmel, setzte sich auf den Pfeil und rupfte die Federn vom Schaft. So hatte Musa mit Hilfe des Falken die Aufgabe gelöst. Die Sonne konnte nicht dahin, wo der Pfeil steckte. Der Falke blieb dazwischen. Auf diese Weise fängt man im Inversum einen Falken. Und so trifft man in der Wirklichkeit etwas, das die Sonne nicht trifft. R@ lachte: Ihr kennt euch gut, ihr beide? Natürlich wusste der Sonnengott Bescheid. @R hatte Musa geholfen. Ohne die Hilfe der Götter treffe ich nichts, sagte Musa zu R@. Das stimmte die Sonne gnädig und sie gab Musa freies Geleit. Sie machte ihn real. Jetzt konnte Musa die Realität betreten, wann immer er wollte. Doch nun war alles nur noch schlimmer: alleine, sagte Musa, hilft mir das nicht. Ich brauche Soussol. Gib auch ihr das Leben! Das war doch etwas verwegen von ihm. Die Sonne kitzelte den Falken, um ihn von seinem Ansitz zu scheuchen: stimmt es, fragte R@ seinen Enkel, dass er ohne unsere Hilfe gar nichts trifft? @R krächzte Oui. Die Sonne zögerte nicht lange: wenn ihr das sagt, dann soll er es beweisen! Musa sollte zeigen, dass er auch in der Realität einhalten würde, was er an ihren Grenzen vollmundig versprach. Alles oder Nichts, sagte R@, such dir ein Ziel, und ich schenke euch beiden das Leben. Oder ich nehme es euch, wenn du versagst, für immer. Der Falke duckte sich unter der erdrückenden Macht der Sonne. Wie kann man in der Wüste nichts treffen? Ein unlösbares Rätsel, denn auch ein Schatten ist nicht nichts. Musa wollte real sein, und wollte das nicht allein. Er wollte Soussol in Panama treffen, und das war schwerer als alles, was die Götter ihm an Aufgaben in den Weg legen konnten. Musa blieb standhaft: ich treffe nichts, wenn ich es mit ganzem Herzen will, und diesmal ohne eure Hilfe. Das beeindruckte die Sonne. Nichts zu treffen, erfordert ein genaues Auge. Und eine schnelle Hand. Man trifft immer was, und das wäre in diesem Falle fatal. Es wäre das falsche. Wie wollte ein Waisenjunge aus einer Oase das erreichen, was noch niemand vor ihm konnte: ohne Hilfe zielsicher nichts zu treffen? Das schaffst du nicht, sagte R@. Doch Musa blieb bei seinem Wort. Er konzentrierte sich auf die Herausforderung. Der Beduine kannte die Sonne und ihre Macht, er hatte nur einen Schuss: es muss der absolut richtige Moment sein, um daneben zu schießen, sagte er. R@ staunte über den Mut des Kleinen, erhob sich soweit es eben ging, die Schatten wurden winzig. Musa wusste, was er wollte. Er kämpfte um Soussol: wenn man etwas wirklich will, dann muss man es mit ganzem Herzen tun, und sofort, sonst misslingt es. Vor allem das Unmögliche. Das Unmögliche hat in der Ewigkeit nur einen Platz: jetzt. Jetzt ist der richtige Moment, sagte Musa. Die Sonne lachte über den Waisenjungen, der so vermessen war, alles auf eine Karte zu setzen. Der hob seinen zweiten, den alles entscheidenden Pfeil, legte ihn auf die Sehne, spannte den Bogen und zielte auf R@. Die Sonne wunderte sich über den Versuch. Wenn Musa den Gott selbst erschießen wollte, hätte seine Kraft dafür nicht gelangt. Und nur R@ konnte ihm seinen Wunsch erfüllen. Doch mehr noch hielt der kleine Beduine beide Augen fest zugedrückt und verkniff sein Gesicht, bis Tränen aus den Augenwinkeln drangen. Die Sonne blendete ihn, und die übermächtige Aufgabe erstickte seinen Mut. Er musste schrecklich unter der Prüfung leiden, die ihm alles nehmen würde. Musa schoss trotzdem genau ins Herz der Sonne. Ein guter Schuss. Der Pfeil stieg auf und stieg und stieg. Es schien fast, als hätte der kleine Beduine wirklich geglaubt, die Sterne erreichen zu können und den Herrscher des Alls selbst in letzter Verzweiflung auf seinem Thron zu treffen. Doch es kam nicht dazu. Natürlich nicht. Der Pfeil verharrte im Himmel, dann kehrte er um. Das Ende der Geschichte war nahe; auch das aus der Métro, denn hätte R@ den Waisenjungen mit seinem goldenen Pfeil erschossen, dann gäbe es seine Geschichte nicht, das Schicksal hätte uns nicht in der Métro zusammen gebracht. Wir beide wären nicht real. Wir wären nur ein Traum: ein toter Musa, und der Pfeil, der zielstrebig alles verfehlt, steckte irgendwo im Wüstensand. Seine geliebte Soussol bliebe einsam in Paris zurück. Und traurig. Der Pfeil jagte zu Boden. Da wartete ein Meer aus Sand auf seine Beerdigung. Aber Musa kam aus der Wüste. Nur ein wirklich guter Karawanenführer kannte sich dort so gut aus, dass er nach einem winzigen Schatten greifen konnte. Und nur ein guter Karawanenführer kann auch gut ins Leere schießen. Und nur ein Musa kann das blind. Der Pfeil kam wie der Blitz herunter. Sobald Musa den winzigen Schatten sah, fasste er danach und ließ nicht mehr los. Es war ein Moment, in dem selbst @R staunte, wie ein Mensch etwas so winziges in einem so winzigen Moment fast blind erfassen konnte. Es musste Schicksal sein. Der Pfeil schmirgelte Musa durch die Handfläche, erreichte aber den Boden nicht. Das Geschoss kam in den gefangenen Schatten gehüllt in Musa’s Hand zur Ruhe. Der Kleine wandte sich R@ entgegen, zeigte ihm stolz den Pfeil und rief: Nichts getroffen! — R@ schenkte uns das Leben. Wir sind real, die Sonne, Paris, der Falke, Clandi und die Concierge. Musa hat es mit einem Schuss ins Blaue geschafft, die Götter glücklich zu machen. Dass seine Hand dabei blutig wurde, hat er R@ nie gezeigt. Die Sonne wusste es trotzdem. Und ich weiß es auch.
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