Zeitlos III
... und sie enden in einer Zelle. Manchmal. Vorgestern war so ein Tag. Kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Man sollte nicht zu viel grübeln. Das Schicksal wollte es so. Das Schicksal wollte, dass ich 10.001 Euro bei mir hatte und keinen Herkunftsnachweis. Ein Euro zuviel. Das erkläre ich meinem Anwalt. Dafür habe ich den Gang zu ihm angetreten. Ich bin in seinem Büro. Und ich sitze. In Gedanken bin ich alles noch mal durchgegangen, während mich meine Beine zu ihm trugen. Danach dann mit ihm. Er kennt die Geschichten von anderen, die
solche Geschichten erfinden. Andere können auch besser beteuern, dass es die pure nackt Wahrheit ist. Ich habe wenig Übung darin. Er nimmt mir die Sache nicht ab. Fausto Coppi, Bahamontes, Zoetemelk … sie alle sind über den Puy de Dôme gekommen. Keiner war gedopt, und sie hatten auch keine Unsummen an Geld dabei, wieso also ich? Mein Anwalt ist skeptisch. Wahrscheinlich ist er deshalb Anwalt geworden. Ich habe mal ein Foto von ihm als Kind gesehen. Er hatte die selbe Skepsis ins Gesicht gemeißelt wie in diesem Moment, wo wir uns gegenüber sitzen. Die Skepsis furcht sich von seiner Stirn an der Nase vorbei durch den von mir aus gesehen rechten Mundwinkel runter bis zur linken Hand, in der ein Schriftstück liegt. Auch das wirkt skeptisch. Es besteht aus zwei zusammen gehefteten Blättern. Die Skepsis faltet sie auseinander, und die Gletscherspalte öffnet sich immer weiter, als wollte sie mich verschlingen. Sie scheint sich durch den riesigen Schreibtisch bis zum Boden fortzusetzen, wo sie in einem Kabel endet, das man auf den Teppich getackert hat. Von dort läuft es zur Wand. Vielleicht ein Zündkabel? Die Stimmung knistert wie eine feucht gewordene Zigarette am Morgen.
Welcher Idiot fährt mit zehn Riesen in bar quer durch Europa auf einem Motorrad?
Derselbe, der an der Mautstelle kein Kleingeld für das Ticket hat.
Einen Euro hattest du, das sind 10.001, also mehr als das Finanzamt zulässt.
Ein Euro, Mann. Ich weiß nicht, wie der in meinen Stiefel kam.
Und was war auf der englischen Autobahn?
Ich fahre nicht gern in England. Linksverkehr ist mörderisch. Vor allem auf der Autobahn. Ich meine, für uns. Für die ist das normal. Wußtest du, dass sie linke Motorräder haben? Kannst du dir das vorstellen? Da ist alles verkehrt dran. Schaltung, Bremse, Kupplung, alles auf der falschen Seite.
Du warst auf der falschen Seite.
Sag ich doch. Es war ja auch ein richtiges Motorrad. Ist aber lange her.
Erzähl’ mir von dem Hund!
Ein Drogenhund, sag ich doch. Er heißt Ronny. Ich glaube, er ist kein Hund.
Was dann?
Ein als Hund verkleideter Mensch.
Ich habe jetzt Mönch verstanden.
Oh, ja. Wenn ich so darüber nachdenke …
Und der war dabei?
N-nein. Der war bei einer Freundin.
Madame Feng?
Richtig, die Chinesin.
Und die Frau von Shui?
Du machst dich über mich lustig.
Also noch mal zum Mitschreiben! sagt er, schreibt aber nicht mit: du warst in Afrika mit dem Motorrad, wurdest in Frankreich mit zu viel Bargeld geschnappt, hattest noch ein Strafmandat aus England offen, und warst in Eile, weil du deinen Hund abholen wolltest. Das hast du ihnen so geschildert?
Wie es die reine Wahrheit ist. Nur zu viel Geld ist relativ. Ich hab dafür hart gearbeitet.
Ja, ohne Herkunftsnachweis.
Die Firma zahlt in bar. Das machen sie immer so.
Ehm. Um Probleme mit dem Finanzamt zu vermeiden?
Nehme ich an.
Probleme wie dieses?
Probleme wie dieses, nehme ich an ...
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