das Hemd
Ich habe viele Hemden. Eins davon ist besonders. Vielleicht nicht nur das eine, aber heute habe ich dieses eine Hemd gebügelt, und da fiel es mir auf. Dieses Hemd ist was besonderes. Ich habe versucht, herauszufinden, was es ist. Was macht dieses Hemd so einzigartig? Die Farbe? Das Muster? Die Verarbeitung? Der Stoff? Die Qualität? Es ist ja ein einfaches Hemd. Von der Herkunft lässt sich nicht viel rekonstruieren. Ich habe es an einem Wühltisch gekauft. Möglicherweise. Vielleicht ist es mir beim Kauf schon deshalb aufgefallen. Möglicherweise passt es zu mir und wollte vielleicht von mir gekauft werden. Wenn Hemden etwas wollen, dann vielleicht dieses. Ich stelle mir vor, dass das Hemd gekauft werden wollte von jemand, der beim Bügeln Jahre später entdeckt, dass er etwas ganz besonderes hat. Wer hat ihm diese Seele gegeben? Während ich bügele, denke ich, dass man soviel Zeit dazu nicht braucht, um eine ganze Geschichte von einem Textil zurückzudenken. Wo es herkommt, wer es gemacht hat und warum. Aber wenn das Bügeln überhaupt einen Sinn hat, außer Knitterfältchen zu entschärfen, dann vielleicht diesen. Ich nehme mir also die Zeit, langsam zu bügeln, und stelle mir vor, dass jemand dieses Hemd mit Liebe genäht hat. Vielleicht jemand, der dafür garnicht bezahlt wird. Vielleicht hat eine junge Frau in einem Billiglohnland in ihrer Akkordzeit daran geschwitzt. Vielleicht stand sogar schon der Kapo hinter ihr und tippte auf die Uhr: mach schneller, dafür wirst du nicht bezahlt. Dafür, dass du diesem Hemd eine Seele gibst. Und sie tut es trotzdem. Warum tut sie es? Vielleicht weil sie ihre Arbeit liebt und weil sie will, dass ihre Arbeit geliebt wird. Sie weiß sicher, dass dieses Hemd auf einem Wühltisch landen wird. Es wird welche geben, die nur ein Grillfest lang halten und dann Öl aufwischen in der Werkstatt. Ich stelle mir vor, dass diese junge Frau das Hemd so sehr liebt, dass sie das beste dafür will. Wie eine Mutter ihr Kind liebt. Sie will ihrer Arbeit dieses Schicksal ersparen, das sie selbst vielleicht dafür hinnimmt. Sie will, dass jemand dieses Hemd mit Liebe behandelt. Und deshalb schenkt sie diesem Hemd soviel Aufmerksamkeit, dass der Kapo zu ihr kommt und ihr den Lohn kürzt. Vielleicht hat sie eine Träne im Auge, weil man sie bestraft, aber sie hat den unbesiegbaren Mut, das richtige zu tun. Sie näht ihre ganze Liebe in dieses Hemd. Und das merkt man. Ich hoffe, ich weiß, dass sie spürt, dass man es merkt. Man könnte blind sein und tastarm, das Hemd würde diese Liebe durch die ganze Welt tragen, möglicherweise sogar durch die Hölle einer Akkordnäherei in einem Billiglohnland. Und am Ende landet es hier. Ich könnte stolzer nicht sein, dass das Hemd ausgerechnet zu mir gefunden hat. Es ist was ganz besonderes. Jede Sekunde des Bügelns hat sich gelohnt. Das wollte ich dem sagen, der es genäht hat.
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