Erotische Momente
Erotik ist doch stellenweise ein recht sparsames Konzept. Mikroskopisch im Vergleich zur spektakulären Wirkung können die Auslöser sein. Die Art, wie jemand Schuhe bindet, Servietten faltet und sich Schweiß vom Ausschnitt wischt. Die Art, wie eine Locke fällt oder eine widerborstige Augenbraue an der Schläfe kribbelt. Das besondere Kräuseln von Lippen, wenn man sich selbst bei einem Versprecher ertappt.
Erotik hat häufig etwas beiläufiges, das dem Subjekt in den seltensten Momenten bewußt ist. Doch wenn es bewußt wird, um so erotischer wirkt. Es blättert eine junge Frau im Park beim Lesen die Seiten eines Buches um – möglicherweise der Abhandlung über Verkehrsrecht – und scheucht sich eine Fliege vom Hinterkopf. Ein leichtes Beben zittert in ihrem Körper und dann kehrt Reglosigkeit und Konzentration zurück. Wie lange hat das Ereignis gedauert?
Für den Bruchteil einer Sekunde sah man dem Leben selbst durch die Wohnungstür beim Schlafen zu. Strand und Erschöpfung in der Hitze der Sonne, Rauschen von Meer im Hintergrund, den dumpfen Geschmack von gesättigten Salzen im Mund und für einen Atemzug nur schmeckt die Zunge darin etwas bekanntes, das sie zu analysieren versucht, während der Blick in der Ferne auf jemanden trifft, der ähnliches denkt. Und bevor der Gedanke ‘Weißbrot’ sich einstellt, ist ein anderer da. Und schüttelt die Emotionen durch. Blicke weichen sich aus, Menschen träumen weiter.
Und was erst, wenn man etwas sieht, das eigentlich gar nicht zu sehen ist? Einen Tanz in einem halb verdunkelten Raum, den täuschend echten Schattenwurf und das, was die Augen erfasst zu haben glauben, ist zwar da aber eigentlich unter einem Tuch verborgen; einem Tuch, das man Zivilisation oder Anstand nennen würde, wenn man einen Namen dafür suchte, und das dem Gehirn so überflüssig erscheint, dass es – zack – die Realität einfach ignoriert. Aber wie das Gehirn ein zweites Mal betrügen? Es geht nicht. Und während es nicht geht, fürchtet sich der Betrachter, verräterische Gedanken zu enttarnen. Besser verstecken, beides. Besser was anderes denken. Aber wie?
Unmöglich. Manche Dinge sind so flüchtig – in einem lymbischen Labyrinth als Geistesblitz. Ein Stachel im Maul einer giftigen Schlange, der nur selten bedrohlich sichtbar wird. Biss. Was ist an einem Kaktus erotisch? Die Vorstellung, dass man sich an den Stacheln piekt? Der blosse Anblick einer winzigen Nadel an der Aussenseite eines lebendigen Objektes? Oder die Erfahrung, die man damit mögicherweise als gedankliches Experiment verbindet. Und gleich wird auch das Wort dafür – Experiment – hocherotisch. Schräg, doch warum?
Die Explosion eines Eindrucks – ausgelöst durch die in der Größe empfundene Bedeutungsüberlastung für einen winzigen Augenblick? Lippen krachen rot aus einem Mund und wölben sich dem Blick entgegen, und im nächsten Moment erkennt der Betrachter, dass da in Wirklichkeit gar nichts ist, das nicht im eigenen Kopf geschähe. Also wirklich gar nichts, denn im eigenen Kopf geschieht in diesem Moment ganz sicher nichts. Die Fragen, die man sich angesichts der Empfindungen stellt, sind selbst schon verblasst, bevor man sie zu Ende denkt.
Aber wo geschieht dann das? Dieser Mikrofilm des Lebens, in dem ohne Bilder und Musik abläuft, was die Wünsche erzählen, ohne dass man mehr als eine Ahnung davon hätte und eine Art von punktuellem, nicht erinnerbarem Gefühls-Ergebnis spürt? Ein Ereignis, das einem Zehntelsekundentraum entspricht?
Und im ganzen Körper wirkt, bevor der Kopf sich dessen bewußt wird. Wenn überhaupt irgendetwas bewußt wird. Wo?
Gedanken: Die Verbindung zweier Ereignisse, die in zeitlichem Abstand wahrgenommen wurden und durch ein drittes, das niemand überhaupt je bemerkt, auf seltsamste Weise in Berührung kommen, doch gleich so innig miteinander verschmelzen, dass sie als Paar nicht mehr getrennt werden wollen. Was löst das aus? Ein chemischer Reiz?
Die Unmöglichkeit dessen, was gefühlt, gesehen und erfahren wird, für einen Moment mit sich selbst und vielleicht auch jemand anderem zu teilen? Der oder die es im selben Moment vermeintlich ganz genauso sieht, denkt und fühlt? Und im nächsten wird das ganze schon wieder zugeschüttet wie ein archäologischer Fund, den man für die Nachfahren unter einer dicken, schützenden Erdschicht konservieren will für Zeiten, in denen das Wetter besser, die Gelegenheit günstiger und die Mittel zur Exploration vorhanden sind ...
Erotik, Ausdauersport im Extremismus für Tausendstel Sekunden – eine nie endende Ereigniskette. Schön, dass es sie gibt.
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