... ein unbeschriebenes Blatt
Es war Sonntag. Sie reden nur in Staffeln. Claas war in der ersten, allerdings im 19. Tausend. Und außerdem hatte es schon 60 vorher gegeben, also war es eigentlich die 61. Das Abzeichen hatten sie den jungen Piloten an die Schulter genäht. Auf der Erkennungsplakette wiederholte sich das ganze zu einer schier endlosen Reihe aus Zahlen und Buchstaben. Claas saß auf dem Pilotensitz und prägte sich die Handgriffe ein. Er war vielleicht einer der besten Flieger seines Jahrgangs, doch Claas galt als langsam. Kein Wunder. Er betrachtete die Instrumente und fragte sich nur eins: Wozu?
Annalena wurde nur Lena genannt. Lena fängt weich an und endet auf einen Laut des Erstaunens. Das ist besonders so, wenn Mutter sie ruft. Dann gluckert ein unentschlossenes Llll vorneweg, und spätestens auf dem langen E, das dann folgt, dreht sich die Ruferin in alle Richtungen um. Beim A hat sie es dann geschnallt, dass die Kleine mal wieder in den Himmel starrt. Lena will Malerin werden, sie ist sehr begabt. Das ist gut so, denn Lena ist meistens stumm. Sie kann besser gucken als reden. Damit ist sie schon ein bisschen anders. Das weiß sie, aber es macht ihr nichts aus. Sie kennt es nicht anders, als anders zu sein. Vielleicht interessiert sie deshalb das Andere so? Gerade machen die Jungs sich fertig. Sie wollen in den Himmel.
Da oben, denkt Claas ist doch nichts, warum fliegen wir da überhaupt rauf? Zu spät, um Fragen zu stellen. Die Staffel ist mit der Schulung durch, und der Instruktor hat sie frei gegeben. Nervös jagen die jungen Piloten in ihre Kanzeln und lassen die Mützen dabei fliegen. Die meisten sind an den Instrumenten praktisch durchgefallen. Sie wissen, wie man nach oben kommt, aber nicht wieder zurück. Claas fragt sich, wozu das ganze? Es heißt, da oben wäre der Feind. Da oben irgendwo ist etwas bedrohliches, das bekämpft werden muss mit allen Mitteln. Man kann es nicht sehen, nur fühlen kann man die Angst. Sie ist überall und wird nur von schneidigem Gehabe bedeckt wie von Leichentüchern aus Unionsflaggen, mit denen sie die Veteranen zu Grabe tragen. Warum ist eine dumme Frage. Claas geht sie nicht aus dem Kopf.
Der Himmel ist blau und klar, wie er nur im Sommer sein kann. Der Regen hat sich gelegt. Die Nebel winden sich wie gewaltige Schlangen durch die umgebenden Täler. Ein Aquarell aus Luft, denkt Lena. Das müsste ich zeichnen. Zeichnen konnte sie schon immer. Man merkt es nur nicht. Lena hat kein Papier. Das wird für die Ingenieuere gebraucht. Papier ist teuer. Früher hat man es aus Wasserpflanzen gemacht. Heute nehmen sie Lumpen. Und Holz. Holz sollte Lena sammeln gehen, doch da, wo sie hinsieht, wird sie keins finden. Im Himmel gibt es keine Bäume. Wasser gibt es genug. Das Wasser entsteht dort oben. Die Aliens wollen es haben. Darum kommen sie. Wir müssen sie bekämpfen. Das weiß sie schon. Wasser braucht man immer noch. Papier entsteht im Wasser, auch wenn man es nicht mehr aus Schilf herstellt. Lena malt mit dem Finger. Sie malt Wolken, wo keine sind. Ihre Wolken sind Bäume.
Claas ist langsam, wiegt der Instruktor seinen Kopf. Die Groundforce raucht nervöse Kippen zu Ringen, die sie in die Luft ausstoßen, als wollten sie dem Langsamen zeigen, wie es geht. Aufsteigen zum Firmament. Die Kameraden sind schon alle oben. Manche jagen mit atemberaubendem Tempo von der Startbahn weg. Claas hat gerade mal die Triebwerke auf Touren gebracht. Als wollte der Nachwuchs mit der Piste verwachsen, während unter ihm der Treibstoff sinnlos verraucht. Er duckt sich instinktiv, als er die ersten Lichtblitze sieht. Unterm Helm kann man schlecht was erkennen. Die Instrumente sagen, dass die Staffel oben bereits Feindkontakt hat. Es wird gekämpft. Claas drückt den Hebel runter und jagt mit dem Schub aller Triebwerke die Kiste in steilem Bogen hinauf. Da wird geballert, was das Zeug hält. Ein Grund ist nicht zu erkennen.
Im Überschwang hatten einge der Piloten das Feuer eröffnet. Ihr Ziel sollten die Aliens sein. Aber da waren keine Aliens, nur Himmel. Und im Himmel die Staffeln, die vorher gestartet sind. Lena staunte über das Gewitter. Was runterkam, waren Leichen. Man würde sie mit Pomp begraben. Lena ahnte, dass da oben was nicht stimmt. Was sie sah, war nichts als Feuerwerk, das ihren blauen Himmel vernichtet. Als hätte ein Maler seinen Pinsel unachtsam ausgeklopft, spritzte Farbe hier und dort an der Leinwand auf und zerlief in dunklen, rötlich-gelben Kleksen. Sie zogen ihre Spur bis zum Boden, wo sie im Nebel versanken. Vielleicht konnte man wieder Papier daraus machen.
Claas war nun oben. Das Gewitter hatte sich gelegt. Friendly Fire hörte er über den Funk. Stop it! Er hatte die Knöpfe nicht enmal berührt. Claas fragte sich noch immer warum. Die Maschine fühlte sich großartig an. Man konnte vielleicht hier und da noch was verbessern. Möglicherweise war sie stark genug, um einen Looping damit zu fliegen. Landeklappen allerdings fehlten. Das mussten die Ingenieure übersehen haben. Ein katastrophaler Fehler, dass das Fahrwerk nach dem Start abgeworfen wird. Es macht den Flieger leichter, gibt Auftrieb. Man soll die Dinge hinter sich lassen, sonst kommt man nicht voran. Doch wohin? Es war nicht zu sehen. Außer Abgas von denen, die schon viel viel höher waren. Und die traurigen Fahnen der Absturzopfer. Das Ziel ist da oben. Wenn du wissen willst, was es ist, dann musst du da rauf.
Der Himmel wird dunkler, je höher man steigt, dachte Lena und hob den Kopf, so weit es ging. Dann hörte sie die Mutter: Leeeen-ahh, da bist du ja. Was machst du da? Guckst du wieder den Jungs hinterher? Eine Scham, die man nicht malen konnte, löste sich in Lenas Gesicht. Die Jungs? Was für eine Aufgabe, den Jungs hinterher zu gucken! Das konnten andere tun. Andere sind anders. Nena zum Beispiel, die saß jetzt da oben. Die hatte die Ausbildung spielend geschafft. Sie war eine der ersten im Himmel. Nena hat es auch als eine der ersten erwischt. Sie ist unser Idol. Alienjägerin zu sein, hatte Lena gründlich vergeigt. Sie konnte nur staunen. Auch das ist eine Gabe, hatte mal einer gesagt. Der saß jetzt allerdings auch in einem Pilotensitz und staunte von oben herab. Zumindest hoffte sie das.
Claas blickte zurück. Der größte Fehler seines Lebens wiederholte sich wie eine Mischmaschine. Er blickte immer zurück, nie vorwärts, wo die Dinge ihren Lauf nahmen. Er blickte zurück und sah, dass er pfeilgerade nach oben schoss, den anderen hinterher. Er war immer den anderen hinterher gewesen. Nie auf einem eigenen Kurs. Dazu hatte er bis zu diesem Moment nicht den Mut gehabt. Vor sich das Feuerwerk, hinter sich ein Nebel aus Kindheit, darin Inseln, auf denen die Pilotenschule kleiner wurde. Jetzt könnte ich es probieren, bevor es zum Einsatz kommt, dachte er. Jetzt oder nie. Einen Looping ...
Lena sah die eine Maschine, nur diese eine tat, was sie nicht erwartet hätte. Sie malte eine Sonnenblume an den Himmel. Der große Zeichner hat sich also doch was gedacht. Lena! rief die Mutter. Aber Lena starrte in den Himmel. Jetzt wusste sie es: die Aliens wollen nicht unser Wasser. Sie wollen unser Papier, damit wir darauf nicht zeichnen können.
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