Die große Chance Europa
Vielleicht waren wir zu saturiert. Gewöhnt an alle Annehmlichkeiten des guten Lebens in unserer Festung, hat man zumindest mal verlernt, das wesentliche schätzen zu lernen. Frieden und Stabilität, Entwicklungsfreiheit. Das Immer Mehr erfährt eine heftige Bremse in einer Kadenz von Katastrophen, die keiner voraussah, aber jeder irgendwie ahnte. Borkenkäfer, Krankheit, Dürre, vernichtende Fluten, Kriege und Rezession. Da soll man nicht resignieren? Im Gegenteil.
Jetzt ist die Zeit der Werte, die wir immer beschworen haben. Jetzt ist auch der Prüfstand für alles das, was uns lieb und teuer ist. Wüßten wir zu schätzen, was wir im letzten halben Jahrhundert erreicht haben, wenn die aktuellen Katastrophen uns nicht vor Augen führten, was es alles zu verlieren gibt? Die Ukrainer kämpfen mit dem Rücken zur Wand und sie sind erfolgreich, weil sie für eine Sache kämpfen. Die Frage ist, ob wir diese Sache genauso zu schätzen wissen wie diejenigen, denen sie fehlt.
Wenn man so will, kämpfen die Ukrainer für Europa. Sie kämpfen jedenfalls für alles das, wofür Europa gern stehen möchte. Friedlich und mit Initiative Freiheit, Entwicklung, Respekt zu erreichen, ist keine Selbstverständlichkeit. Totalitär, gewaltsam und rassistisch zu denken, gehört in die Klamottenkiste. Ist es nicht das, was wir gerade mit eigenen Augen sehen?
Rezession, Energiepreisdrama, Umweltprobleme ... scheinen vom Himmel zu fallen und unsere Lebensweise zu bedrohen. Aber ist das wirklich so? Oder kratzen sie nur an der Oberfläche eines großen Ganzen, das jetzt Zeit und Gelegenheit finden könnte, sich auf die eigenen Stärken zu besinnen? Gut, das Gas wird teuer, aber wir haben keinen Krieg. Ernten bleiben aus, aber niemand verhungert. Umwelt wird knapp, aber wir können das Debakel erkennen. Und wir können Lösungen finden. Vielleicht sogar welche, die bereits in aller Köpfe sind.
Wie ist es, wenn man sich einschränken muss? Man lernt wichtiges von unwichtigem zu unterscheiden. Vielleicht fehlte uns das bisher. Vielleicht kann man mit einem geringeren Wirtschaftswachstum leben mit geringerem Umweltverbrauch und weniger Mobilität. Vielleicht kann man toleranter sein, wenn man nicht ständig im Mehr und Besser gefangen ist. Vielleicht zeigen uns die Ereignisse, dass sich unsere Werte jetzt gerade vor unseren Augen bewähren. Und dass sich nur die Feiglinge in fundamental überholte Strategien aus glorreichen Zeiten flüchten, in denen alles ... Hand aufs Herz ... sehr viel schlechter war.
Wenn Europa Erfolg haben soll, muss man daran glauben. Die Ukrainer tun es, warum nicht wir? Unsere Lebensweise ist gut und richtig. Sicher gibt es Dinge, die über Bord geworfen gehören. Ungebremstes Wachstum, Konsum um jeden Preis, Ressourcenverbrauch ohne Sinn und Zweck kann auf die Müllhalde. Aber ganz sicher gehören dort Chauvinismus, Großmachtdenken, Gewaltbereitschaft hin. Zur Zeit hat es die Politik nicht leicht, und das wird sicher auch noch eine Weile lang so bleiben. Aber dann gleich zu den Schwätzern flüchten, die uns versprechen, alles besser zu machen, wenn man sie nur lässt?
Wo Putin scheitert, werden auch unsere Kleinradikalen scheitern: an einer Idee, die die Menschen begeistert. Für mich hat sie einen Namen. Europa. Aber dieser Name steht nur dann für etwas, wenn wir die Werte dahinter erkennen, so wie es momentan andere für uns tun. Vielleicht ist das, was wir erleben, keine Krise. Vielleicht ist es die erste richtige Chance
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