Spießer einst und heute
Früher war alles besser, sagt der Spanier. Früher musste man die Unterwäsche einer Frau öffnen, um den Hintern zu sehen; heute muss man den Hintern öffnen, um die Unterwäsche zu sehen. So gesehen ein Fortschritt der Miniaturisierung in der Textilindustrie. Dass früher alles besser gewesen wäre, ist als Aussage auch schon ein Erkennungsmerkmal für Spießerei an sich - immer schon gewesen. Spießer sehnen sich nach festen Strukturen um Heim und Herd und Wetter, geopolitisch, in ihrem guten Recht, in Sachen Befehl und Gehorsam, Tabus und Religion. Die Spießerei hätte also früher einmal eine milde Form des heutigen Autismus ersetzt.
Aber auch Spießer sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Sie sind längst mutiert in eine hightech-Version, die keinen röhrenden Hirsch mehr braucht, um sich im Gelsenkirchener Barock hinter Aktenstapeln von Schrebergartenklagen wohl zu fühlen. Der moderne Spießer inkarniert im heiligen Blech des SUV mit Biosiegel auf der Stirn und Apple auf der Klappe, verpasst keine Folge Dschungelcamp und ist über die Aufführungspläne der Musicals in Hamburg genauso up to date, wie er sich über die Bundesliga auf dem Laufenden hält und das Wetter von nächster Woche Donnerstag kennt.
Der moderne Spießer betet die Apps und Jailbreaks seines iPhone herunter wie die Urversion das Vaterunser in der Kirche. Er tötet für Radkappen und gegen Tempolimit, bremst für Kröten, aber nicht für Kinder. Er kämpft um jeden Zentimeter Parkraum in der Innenstadt, schon wenn der Kaufentscheid für das Auto fällt, das bei Erfüllung aller Normen und Gesetze größtmögliche Grundfläche, Höhe, Breite und Benzinverbrauch aufweist, und die Steuerklasse bis auf den Kubikzentimeter genau auszuschöpfen weiß. Der moderne Spießer isst nicht mehr Bratkartoffeln mit Brühwurst aus der Region, er lässt sich vom Warenangebot der Aktionswochen mitteilen, was aktuell verzehrt werden muss. In korrekter Fremdsprache.
Der moderne Spießer ist rundum informiert, und das ist das Fatale an der Sache: über alles. Er ist der erste, der die hochaktuelle amerikanische True-Crime-Serie im Original gesehen hat, er weiß auch, wer warum die Rechte daran an wen veräußert und weshalb die Synchronisation ins Dänische vereitelt hat. Er kann einem sagen, was Putin bewegt, wer die Kalmückischen Opladen sind, und was das ganze mit den Freihandelsgesetzen zu schaffen hat, die ganz sicher dazu dienen werden, den absolut notwendigen Antiterror voranzubringen als unveräußerliche Errungenschaft der Menschheit an sich wie die Entdeckung des Mars und seiner Sonden. Und er tut es auch. Also, uns das alles sagen.
Und wenn wir nicht zuhören, knallt er uns einen Shitstorm hin, von dem wir den Namen nur durch wieder ihn selber, den Spießer kennen, denn der hat sich bereits vorab informiert, was denn nun in der modernen Informationswelt gerade en vogue ist; und er kennt die technischen Details. Der Spießer spießt heute in facebook, und er ist NICHT an seinen Katzenbildern zu erkennen. Er ist daran zu erkennen, dass er Katzenbilder als kulturlos brandmarkt und statt dessen Nominierspiele initiiert, die er dann selbst wieder als geschmacklos outet, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Spießer sind hilflos Suchende, die den Mut nicht haben, sich auf Malle einen Rausch anzusaufen und anständig ins Meer zu kotzen.
Da sind wir wieder in Spanien; denn was ein rechter Spießer ist, fällt einem Deutschen vornehmlich dann auf, wenn er sich außerhalb seiner Landesgrenzen bewegt: der Spießer ist der vielleicht erfolgreichste Exportartikel der Deutschen. Noch erfolgreicher als der Fußball oder die Automobilindustrie. Und das immerhin scheint sich über die Zeiten gerettet zu haben. Seit dem Mittelalter, als der Begriff entstand. Und sich dann allmählich zu wandeln begann von einer Waffengattung in eine moralische. „Im Allgemeinen werden die Bewohner Göttingens eingetheilt in Studenten, Professoren, Philister und Vieh ...“, sagt Wikipedia über den Spießbürger, der dort irgendwo zwischen Philister und Vieh subsummiert.
Mitte des 19ten Jahrhunderts scheint sich der Begriff des Spießers endgültig ins Negativ der französischen Revolutionäre fixiert zu haben. Die Massenträgheit der deutschen Stände und Pfründe, der armen Schlucker, die den Mut nicht hatten, sich mit dem Adel anzulegen oder noch nicht bis aufs Blut gereizt wie die französischen Nachbarn, nur halb revolutionierten, scheint sich in dem Begriff des Spießers zu kristallisieren, der weder modernen Ideen, noch Idealen, Bildung oder Kultur verpflichtet ist als mehr seinem Bauch. Damit ist der Personenkreis, der ÜBER den Spießer spricht, natürlich auch schon* als arrogant negativ konnotiert. Wer andere als Spießer bezeichnet, ist ein weltfremder Studiosus aus Heidelberg, der von hehren geistigen und sozialen Paradiesen träumt, und dabei das schnöde Geld der Spießereltern verbrät. Der Vorläufer des Bachelors auf Brautschau unter den mentalen Aschenputteln im Land.
Nunja, und was, wenn beide Spießer wären? Der eine im Herzen, der andere im Verstand? Der moderne Spießer zeichnet sich bestimmt nicht durch Armut aus, es sei denn durch geistige. Kant sprach von der selbstverschuldeten Unmündigkeit eines Wesens, das sich freiwillig und wider besseres Wissen einschränkt, [um sich eine wohlige Welt herbei zu träumen]. Der Gegensatz zum aufgeklärten Menschen.
Nichts ist so gefährlich für die Freiheit wie der glückliche Sklave, heißt es bei den Griechen. Was also tun in dem gefährlichen Dilemma der Unterhosen? Minimalerotischer Feinrippslip? Provisorische Meinung: am besten keine - Unterwäsche. Wo hatten wir das noch? Ah: des Kaisers neue Kleider. Seien wir zu uns selber milde und nennen das Phänomen Spießer einen unverzichtbaren Bestandteil unserer Kultur ...
‰