Tábara
Ein Stausee, enge Brücken, schmale Schluchten, langgezogene Passagen und völlige Stille. Ich will an diesem Tag nur weiter kommen. Gehe und gehe, pausiere, gehe weiter und komme mit mir nur selten ins Reine. Schaue immer wieder auf die Karte, bis die Straße gerader und gerader wird und in der Ferne irgendwo weisse Dörfer auftauchen, die an der Straße aufgereiht scheinen wie Perlen an der Schnur. Eins davon mein Ziel. Natürlich das letzte.
Beim Anblick dessen, was in Tábara passiert ist, kommen mir instinktiv die Tränen. Die letzten Kilometer der N-631 vor Erreichen der Ortschaft werden flankiert von verbrannter Erde, verkohlten Baumstümpfen und abgefackelter Grasnarbe. An manchen Stellen kann man noch erkennen, wie die Feuerwand am Asphalt der Straße geleckt hat. Der Funkenflug muss enorm gewesen sein, denn auf benachbarten Äckern finden sich in den Stoppeln der abgeernteten Kornfelder kreisrunde Brandnester. Elektroleitungen hängen von ihren Masten schlaff herab. Die Feuerwalze hat sich offenbar so schnell bewegt, dass manche Bäume und der größte Teil der Strommasten nur oberflächliche Brandschäden zeigen. Ein starker Wind hat dem Anschein nach das Feuer durch die Oliven- und Eichenwälder gepeitscht. Kein Wunder, dass hier Feuerwehrleute bei den Einsätzen ihr Leben aufs Spiel setzen mussten. Die Rauchgasentwicklung muss fatal gewesen sein. Jetzt liegt die Landschaft ermattet da und wartet auf den Winter, wenn es wieder Sinn haben könnte, die Natur zu beleben. Auf der Straße preschen die Autokolonnen ungerührt vorbei. Urlauber, die ins verlängerte Wochenende wollen oder daher kommen, Wohnmobile … einen Ort vor Tábara treffen sich Dutzende von Radfahrern zu einer Erfrischungspause. Scheint, als hätten viele nicht realisiert, was hier vorgefallen ist.
Die Herberge von Tábara empfängt den Wanderer sehr herzlich. Bei der Anmeldung gibt es Anhänger als Geschenke, das Abendessen ist inkludiert. Im Schlafsaal treffe ich drei Spanier, die den Camino als sportliche Übung ansehen. Sie unterhalten sich darüber, als ginge es um eine Partie Fußball. Nach welcher App gehst du? Wo kriegt man denn hier Wasser? Hab ich dich im Zug von … gesehen? Im rasenden Disput über Vor- und Nachteile von online und offline und Cerealien und Ausrüstung und wasweißichnoch versuchen sie sich gegenseitig zu beeindrucken. Exakt, was ich vermeiden wollte, als ich den Abzweig nach Tábara ging, habe ich nun - mit etwas Pech zehn Tage lang - das Wettrennen nach Santiago direkt vor der Nase. Stellt sich die Frage, wie ich dem Desaster entgehen kann. Und in welchem ich landen werde, sollte es mir gelingen. Naja, der Camino hat Platz für vieles, und die Herbergen kann man vielleicht geschickt so wählen, dass man an den Bundesjugendspielen nicht aktiv teilnehmen muss.
Und es kommt noch schlimmer. Besser aber auch. Denn die Herberge wird tatsächlich noch voll. Im Schlafsaal herrscht ein Summen und Geschnatter, wie es Verkaufsgespräche am Telefon begleiten würde, ginge es um Handyverträge und Videogames „exactamente, perfecto, hombre, joder, precisamente que digo yo, app de puta madre“ und ständig fallen Zahlen und Werte zu Streckenabschnitten und Temperaturen, Wettervoraussagen, Weckzeiten, Höhen, Tiefen und Preisen in Herbergen, wann wo wer in welchen Städten oder Orten sein wird und welche Etappen „duro“ und welche „chulo“ sind, hart oder Warmduscher. Ich fühle mich völlig fehl am Platz und verstehe auch kaum mehr einen zusammen hängenden Satz, denn das Tempo zieht gewaltig an. Beim gemeinsamen Abendessen herrscht eine angenehme Stimmung des Teilens und Gebens. Alkohol steht auf dem Tisch, und der Herbergswirt verschenkt je einen Anhänger mit Sinnspruch, um an das spirituelle Moment des Jakobswegs zu erinnern. Die Sprüche fallen recht simpel aus und erinnern alles in allem an chinesische Glückskekse. Irgendwie ist heute, bei allem Eifer der Beteiligten, bei mir zumindest die Luft raus. Im Dorf ist Fiesta. An jedem anderen Tag wäre ich wohl als erster dahin gerannt. Kann mich aber nicht aufraffen. Müde, gelangweilt oder krank?
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