Davidstern
Jetzt fange ich an nachzudenken. Inzwischen fällt es mir nicht mehr so leicht zu rekonstruieren, wer da was am Programm verbockt hat, doch ich habe viel Zeit zum Forschen. Die Kartenapp schätzt den Abstand zweier Punkte auf der Karte offensichtlich, indem sie die Luftlinie im Grundriss ausmisst. Auf diese Weise befindet sich ein Gast im Restaurant Jules Verne am Eiffelturm, in dem Moment, wo ein Flugzeug über Paris hinweg fliegt, am selben Ort wie der Steward, der in zehntausend Metern Höhe gerade Tomatensaft verschüttet. Da ich unten an der Straße festklebe, benehme ich mich wie ein Auto und drücke auf den Navi-Start. Das Handy läuft sofort heiß (noch heißer), und mir fährt ein Schreck durch die Glieder. Denn jetzt weiß ich, dass ich am Abend, sollte es in Hervás mit der Herberge klappen, 33 km gegangen sein werde, davon ein Drittel auf einem Maultierpfad, 1.000 Höhenmeter und das alles mit Gepäck.
Weiß nicht, wie es mir gelungen ist, um sechs Uhr bin ich mit einem kapitalen Sonnenbrand und Krämpfen in den Beinen in Hervás … und habe keine Unterkunft. Der Pass heißt Puerto de Honduras. Puerto ist der Pass auf Spanisch, hondura ist die Tiefe. Höhen und Tiefen.
Das malerische Gebirgsdorf mit dem riesigen Judenviertel am Fuße einer niedlichen Kirche hat von Anfang an keine Chance in meiner Wahrnehmung. Ich bin völlig erschöpft, stehe vor der kleinen jüdischen Brücke - alles ist jüdisch - und erwäge, darunter meinen Schlafsack auszurollen. Die Herbergen sind alle belegt, und da ich mich abseits des Camino bewege, stehen auch keine Schlafsäle für Peregrinos bereit. Ein umgebauter Bahnhof behauptet, Herberge am Camino zu sein, doch es geht keiner ans Telefon, als ich die an der Tür angeschlagene Nummer wähle. Dann taucht ein Pärchen auf, die Wirte, und sie schütteln bedächtig ihre Köpfe. Die nächste Herberge sei möglicherweise ein bis zwei Stunden entfernt. Jeder Meter in dem kleinen Ort tut nun weh. Von Tür zu Tür schleppe ich mich und mein Gepäck in schierer Hoffnungslosigkeit, bis ich schließlich über das Internet doch noch ein Bett finde. Ein Studio im „Davidstern“. Der Besitzer scheint weit weg zu sein, denn unser holpriges Telefonat bleibt der einzige Kontakt zu Pedro. Er instruiert mich, eine Code-gesicherte Box zu finden, sie zu öffnen, ihr einen Schlüssel zu entnehmen, damit aufzuschließen, weist mir den Weg hinauf und dort den Sicherungskasten, an dem ich den Strom einschalten kann. Während unseres Telefonates fällt das Handy mehrfach aus, und warnt mich wegen Überhitzung und leeren Akkus. Ich schaffe es gerade so zum örtlichen Supermarkt, kaufe Tomaten und Zwiebeln ein und schneide mir mit dem über den Pass getragenen Ziegenkäse einen Salat auf, das Brot wurde in der Sonne schön krustig, und legten nicht immer wieder Krämpfe meine Hände lahm, hätte ich mich auch ein wenig erholen können. Ich musste mir noch das nötigste im Becken auswaschen. Beim Auswringen verbogen sich die Finger in die falschen Richtungen. Die Socken trocknete ich dann am Geländer hinterm Fenster an einem Davidstern.
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