Nomaden im eigenen Land
Gerade habe ich mir noch einmal das Spinnennetz der Wege nach Santiago angesehen. Wenn wir von dem Camino de Santiago sprechen, meinen viele Deutsche den Camino Francés, der Pamplona, Burgos, Leon streift und hauptsächlich Franzosen nach Galizien führt. Weil dahinter liegende Länder durch Frankreich ziehen, ist dieser Weg in Mitteleuropa auch als ‚der‘ Weg nach Santiago bekannt. Schaut man sich die Karte genauer an, so wird man eingestehen, dass jemand, der von sich behauptet, den Camino de Santiago komplett gegangen zu sein, hundert Jahre lang zu Fuß unterwegs gewesen sein müsste. Ein Wanderhirte vielleicht, doch dazu später vielleicht mehr. In diesem Artikel, vielleicht habe ich ihn schon erwähnt, in dem Herr Gomellas die spanischen Besonderheiten so großartig zusammen fasst, ist unter anderem auch vom Verkehrswesen die Rede. Spanien hatte die Römer, und die Römer hatten Ingenieure. Während andere Länder Europas in der Blütezeit des Verkehrs- und Handelswesens ihren Aufschwung nahmen, blieb allerdings Spanien im wahrsten Sinne auf der Strecke. Mehrere Faktoren waren dafür hinreichend. Die Höhen-, Klimaunterschiede und -extreme behindern den modernen Wegebau. Die mangelnde Schiffbarkeit der Flüsse in Verbindung mit starken Schwankungen im Wasserstand machen Binnenschifffahrt und Kanalbau nahezu unmöglich. Schließlich konnte das Land auch wegen fehlender Kohlereserven von ausreichender Qualität nie ein nennenswertes Eisenbahnnetz einrichten. In der Folge blieb Spaniens Handel im europäischen Vergleich weit zurück. Ausnahmen bildeten Regionen wie Katalonien, wo es natürliche Seehäfen gab, die über Jahrhunderte anerkannte Wirtschaftsrouten bedienten. Die Extremadura, als Beispiel, ist in verkehrstechnischer Hinsicht bis in die Neuzeit hinein ein Entwicklungsland. Gleichzeitig existiert in Spanien bis heute ein spürbares Nomadentum. Wer in der Stadt erfolgreich ist, hat selbstverständlich auf dem Land oder am Meer einen zweiten Wohnsitz, aber das ist nicht vordringlich gemeint. Auch nicht die Gitanos, die kaum noch in Wohnwagen von Land zu Land reisen, eher morgens mit der Droschke in die Innenstadt fahren und am Abend wieder nach Hause. Nein, gemeint sind die Schäfer und Hirten, die es seit Jahrhunderten gewöhnt sind, weite Routen zu nehmen und quer durch das Land zu gehen. Die entsprechenden Wege stehen insofern auch gesetzmäßig den Wanderern zu. Das heißt, dass Latifundien häufig an ihren Toren die Wege für durchziehende Menschen und Herden geöffnet haben. Als Peregrino begeht man diese Wege. Man erkennt das beispielsweise am Kot der Schafe oder an den Spuren im Sand. Man lernt alle Arten von Schlössern kennen, wenn man die Grundbesitze durchquert. Man öffnet ein Tor und schließt es, geht eine Stunde und erreicht das Ende einer Finca. Eine andere grenzt an. Dort geht es genauso. Hunde streunern schon mal an deiner Seite, und verabschieden sich unversehens, wenn es zu heiß wird, Vieh bimmelt um dich herum, Schilder weisen darauf hin, dass Früchte nicht geerntet werden dürfen und Jagden nicht ausgeübt werden dürfen, doch der Weg ist frei. In diesem Falle von Sevilla bis Santiago.
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