Was sind eigentlich Psychos?
Interessante Fragestellung, der sich der Psychologe Manfred Lütz in humorvoller Weise gewidmet hat. Der Nervenarzt leitet das Kölner Heilzentrum für schwerste psychische Erkrankungen und geht die Liste der Schizophrenien, Depressionen, Anomalien durch wie ein Tierarzt Hunderassen. Die gefährlichste ist die Normopathie, normal zu sein.
Aus Sicht des Arztes ist der Normale das Problem, denn er ist passend und sich daher seines Problems nicht bewußt wie der leidende Kollege. Abgekürzt formuliert verdrehe ich seine professionelle Meinung mal ein wenig, denn Manfred Lütz legt wirklich überzeugend dar, was wir alle erfahren:
dass wir in Wahrheit die Falschen behandeln.
Mir hat seine Psychoreise sehr gefallen. Allerdings kommen auch Gesichtspunkte zu kurz, die möglicherweise ‘down ground’ erst wirklich erlebbar werden, die fatale gesellschaftliche Komponente. Psychopathie, also Erkrankung der Seele, wird gesellschaftlich medizinisch doch noch vorwiegend als Problem eines Individuums gedeutet, möglicherweise mit stoffwechselbedingtem Hintergrund. Aber wie sieht die Erfahrung Betroffener aus?
Zunächst mal gibt es Psychopathen praktisch nicht vereinzelt. Zwar scheinen sie den Hang zur Absonderung zu entwickeln und Strategien zu pflegen, um die Absonderung vehement zu verstärken – umgekehrt könnte auch argumentiert werden, dass Auffälligkeiten im Verhalten, die psychopathische Ursachen haben, von der Umgebung abkapseln oder zur Aussonderung des Erkrankten führen – aber die wirklich schweren Formen BRAUCHEN, und das ist das Kuriose daran, sie brauchen eine sogenannte intakte Umgebung.
Sie brauchen diese intakte Umgebung so sehr, dass sie mehr als jeder andere das Regelwerk der intakten Umgebungen pflegen und verehren, bis zum Exzess hinein, und darüber den Mitmenschen komplett vergessen.
Es sind die Reihenhausspießer, über die ich spreche, die militanten Schrebergärtner, die Dauergäste des Staatsanwalts, die Querulanten auf der schwarzen Liste der Krankenhäuser, deren kleinstes Pickelchen Chefärzte beschäftigt, die Hardliner in der Politik, die Damen und Herren Erwerbslosen, die sich morgens um sieben mit der Webcam auf den Weg machen, um mindestens 50 Parksünder anzuschwärzen.
Und die sind laut Manfred Lütz nur bedingt Psychopathen. Auch entsprechend der medizinischen Definition. Wo genau die Grenze zwischen einem kalt kalkulierenden Hitler oder Stalin einerseits und einem Zwangsneurotiker andererseits liegt, der Kinder prügelt, weil sie seinem Auto zu nahe kommen, ist wohl auch definiert, möglicherweise chemisch oder in der Frage des logisch motivierten Handelns.
Die tatsächliche Auswirkung auf das Environment, die kleine gesellschaftliche Umgebung, ist aber so fatal wie auf den gesamten Organismus Staat und Recht, wenn ein in dieser Weise logisch kalkulierender Irrer seine Umgebung terrorisiert. Denn er kennt seine Rechte.
Er weiß, was man ihm kann oder nicht kann. Und er weiß, eine therapierende Behandlung zu vermeiden. Er ist der letzte, der sich einweisen lässt. Er ist die perfekte Tarnfähigkeit im Soziokontext. Er beherrscht den Mainstreamslang aus der politisch-gesellschaftlichen Underclass, er weiß, wann er wem welche Gewalt androhen oder ungestraft ausüben kann, wann er die Kamera zücken muss, um anderen ihre unrechtmäßigen Reaktionen nachzuweisen, er kennt die Namen und Dienstgrade aller Polizisten am Ort, er ist der Dienstnummerntyp bei jeder Polizeikontrolle und Mitglied im örtlichen Tae-Kwon-Do für Arme. Prügeln nach Regeln mit Fremdwörtern dafür.
Und er weiß, welche sozialen Sicherungen es gibt, auf die er ein unveräußerliches Recht hat, zum Beispiel Prozesskostenhilfe. Er ist die Inkarnation des Schandflecks in einem bürgerlichen Verbund von Menschen mit gemeinsamen Zielen oder Idealen, von dem sich jeder abwendet, den jeder ignoriert, bis es nicht mehr anders geht. Denn dieser Typ weist nicht den Ärzten ein neues Krankheitsbild nach, sondern der Gesellschaft ein kollektives Problem: dieser Typus ist Träger oder Repräsentant einer Krankheit, die im Gesetzbuch verankert ist, des Mitgefühls und der Toleranz.
Wenn man ihm begegnet, was zwangsläufig leiden heißt, dann sollte man stolz auf sich und seine Gesellschaft sein. Ein platt gestochener Reifen, eine üble Nachrede, ein Knöllchen vom hinterfotzigen Querulanten, ein Kratzer am Kotflügel des Dienstwagens, eine nächtliche Attacke von Telefonterror, Drohungen, Angriffe, Einschüchterungen und Sozialräuberei in sattem Ausmaß, das alles sollte dem, der es aushalten muss, die Gewissheit geben, dass wir in unserer Gesellschaft ein Maß an Toleranz verwirklicht haben, das es nie gegeben hat.
Und dieses Maß an Toleranz schafft nicht der Berliner per Gesetz. Es schafft der, der sich ohne Murren einen neuen Reifen aufzieht, denn der ist der wahre Path am Psycho, der Leidende, der sein Leiden investiert für eine bessere Welt.
Hutap!
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