Plasencia

Wir leben in der Epoche der Menschheit. Ein denkwürdiger Satz. Gleichwohl einer meiner herausragenden Übersetzungsfehler. In Plasencia läuft gerade ein Ausstellungszyklus zu den Zeitaltern der Menschheit. Ich habe eine Runde durch die Museen gedreht und zwischendurch noch schnell den Palast de Mirabel angeschaut. Man steigt auf einen Turm und hat den besten Ausblick auf die gesamte Umgebung. Innen prangen die Jagdtrophäen der Palastherren an den Wänden. Ein ergiebiges Jagdrevier, wie es aussieht. Der Palast so verwinkelt, dass jede Tür einen Blick auf ein noch romantischeres Ambiente als die vorige eröffnet. Das veritable Neuschwanstein der Extremadura kam bereits vor Monaten in meinen Träumen vor. Dort verlief ein magischer Gang unter dem Herrensitz, der durch einen Tunnel vor die Tore der Stadt führte. Ich suche also danach in der realen Welt und finde an nämlicher Stelle die Zufahrt zur Tiefgarage des hiesigen Parador.

Abendessen mit Inés aus Mérida. Sie erklärt mir die Küche der Extremadura. Und damit den Fehler, den ich mache, wenn ich Cojondongo und Migas esse. Beides ist Brot. Cojondongo ist nämlich die Variante des Salmorejo, wie sie in der Extremadura gegessen wird. Das Gemüse ist nicht passiert, die Brotstücke schwimmen in Kaltschale. Die Migas sind Brotkrümel. Sie werden angeröstet und mit feinen Streifen von Paprika und Knoblauch kurz weiter gegart. Dazu gehören einige Stückchen von angebratenem Chorizo, ein Winteressen. Mit dem hiesigen Wein schmeckt das sehr gut, aber Inés, als Frau vom Fach, behält Recht: schlechte Kombination und zu viel. Wir haben das Essen auf der Plaza Mayor gehabt, eine schöne Atmosphäre. Als wir in der Herberge ankommen, fällt mir mein niedriger Wasserstand auf. Trinken, trinken, trinken. Wenn ich mich im Spiegel betrachte, möchte ich glauben, fünf Kilogramm mindestens eingebüßt zu haben, die Hälfte allerdings wird Wasser sein.

Wir haben unter anderem auch über ihren Großvater erzählt, der Oliven hatte. Eine sehr hohe Qualität wird im Nord-Westen der Extremadura produziert, fast schon Portugal. Das erste Öl ist natürlich das beste. Nach der Ernte schichtet man die Oliven in der Presse auf. Was durch das Eigengewicht der Früchte an Öl heraustropft, könne man wie einen guten Wein trinken. Diese Erzählung kenne ich aus Italien, aber bisher hatte ich noch keine Gelegenheit zur Probe. Inés erklärt mir, passend zum gedanklichen Faden, die Herstellung des Casar de Cáceres. Der Weichkäse wird aus der ersten Milch der Schafe gewonnen. Sie ist besonders fett und inhaltsreich, daher die guten Aromen. Als ich Inés erzähle, dass mir das viele Fett in der Küche der Extremadura nicht so gut bekommt, hält sie mir vor, wieviel Butter wir Deutschen verdrücken. Das Fett in Wurst, Schinken, Käse und Eintöpfen (Guiso) kollidiert in meinem Magen mit der hiesigen Hitze. Man muss allerdings auch bedenken, dass es auch in der Extremadura Winter gibt, und dann hat das ganze wieder seinen Sinn.

Am späten Abend sind wir in der Herberge zurück, und mir geht so einiges durch den Kopf. Die Frage zum Beispiel, was all diese Eindrücke bewirken werden, wenn ich mal nicht mehr auf Wanderschaft bin. Wohin dich alles das zerrt und zieht, und wie es innerlich an einem reissen kann. Schon heute Nachmittag merkte ich, wie stark der Drang nach Entdeckung und Erleben ist und wie quälend die Schmerzen in den Beinen dagegen halten können. Je mehr man sieht, desto mehr möchte man entdecken. Zuweilen fühle ich mich wie ein Tier, das man über lange Zeit eingesperrt hat, und kaum öffnet sich die Tür, rennt das Tier los. Läuft und läuft fast ziellos nur dahin, wo es die größtmögliche Freiheit vermutet. Und das Erleben, das fehlt.

Rodrigo Alemán war ein Bildhauer vom Anfang des 16. Jahrhunderts. Er wurde als einer der bedeutendsten Künstler seiner Zeit eingeschätzt. In der Extremadura schuf er einige sakrale Werke, die ihn in Konflikt mit der Inquisition brachten. Der Legende nach sperrte man ihn in Plasencia in einen Turm. Als man ihm auftrug, Gänse für die Küche zu rupfen, sammelte er die Federn, erbaute sich daraus einen Flugapparat und flog davon. Das örtliche Museum erzählt die Geschichte, allerdings mit einem weniger glücklichen Ausgang. Der Flugapparat versagte, und Rodrigo stürzte sich zu Tode. Ich schlafe schlecht. Die Beine schmerzen doch arg. In der letzten Nacht gelingt es nicht, ins Bett zu steigen. Fürchte, wenn ich einmal weg bin, komme ich so schnell nicht wieder. Warum also aufbrechen? Mit Unterstützung meiner Freundin aus Ayamonte habe ich mir ein Hotelzimmer flussaufwärts gemietet. Es liegt auf halber Strecke nach Baños de Montemayor. Um dorthin zu gelangen, bin ich so weit von der Pilgerroute abgekommen, dass ich von hier leichter nach Madrid gehen könnte als nach Santiago. Es liegt am Relief. Übermorgen habe ich einen Berg vor mir. Ich wollte es so. Wollte außerdem den Fluß Jerte erleben. Also gibt es kein Zurück mehr, nur noch ein Stehenbleiben, bis mir das Geld ausgeht.

Ja, was hat es mit dem Zeitalter der Menschheit auf sich? Wenn man es schafft, sich vorzustellen, dass die Menschheit nur eine Episode der Erdentwicklung ist, dann wundert es mich nicht, dass ich mich häufig wie eine Sonde fühle, die im Kostüm eines Wanderers durch die Geschichte streift, um zu erfahren, wie es damals einmal war, Mensch zu sein in einer vertrocknenden Welt voller Abenteuer und Geschichten. Frage: wie und wieso haben sie es damals hingekriegt, sich selbst zu beseitigen? Erste Ansätze sichtbar. Houston, die haben hier ein Problem …