Cañaveral und der trockene Stausee
Alle meine Befürchtungen wurden wahr, was die anstehende Etappe anging. Zwischen Casar de Cáceres und Cañaveral gibt es wenig Schatten. Der zweitgrößte Stausee Spaniens liegt nahezu trocken
, der Weg vom See nach Cañaveral hinauf kommt mir wie tausend Kilometer Bergetappe vor. Ein Autofahrer stoppt und forscht in meinen Zügen nach den Ursachen für das Dilemma. Freundlich und hilfsbereit, wie die Leute entlang des Camino sind, erkundigt er sich schließlich, ob alles okay sei mit mir, ob ich Wasser hätte, und nennt mir die restlichen Kilometer bis zum Etappenziel, es seien sechs. Das war sehr freundlich von ihm, mich so zu motivieren. Die sechs Kilometer erinnerten mich wieder und wieder an die Schildkröte, die gegen Achilles einen Wettkampf austrägt. Da sie langsamer ist als Achill, bekommt sie einen Vorsprung. Hat der Held den Vorsprung erreicht, ist die Schildkröte jedoch nicht mehr da. Denn in der Zeit, die Achill für den Vorsprung brauchte, hat die Kröte eine weitere Distanz herausgelaufen. Schickt sich nun der antike Held an, diese Distanz auch noch zu bewältigen, rennt ihm die Schildkröte wiederum ein kleines Stück voraus, denn sie bewegt sich zwar langsam, aber stetig. So kann, heißt es, Achill die Schildkröte nie im Wettkampf besiegen.
Auch die Griechen hatten Probleme mit der Hitze. Momentan ist es in Athen gute fünf Grad kühler als bei mir. Ich habe mein Etappenziel tatsächlich erreicht, aber um welchen Preis?
In der Herberge sitze ich im Schatten und erfühle jeden Knochen, jede Muskelfaser schmerzt. Cañaveral ist in der Mittagshitze nicht mehr als ein seelenloser Vogelschiss an einer Bergflanke. Im Plan sind zwei Tankstellen eingezeichnet, die möglicherweise beide seit Jahrzehnten nicht mehr existieren. Zwei Lokale, sagt das Internet, hätten geöffnet, beide sind jedoch verrammelt. Eines gehört dem, der am Schwimmbad unten den Imbiss betreibt. Weil ich nicht weiß, wie weit mich meine Füße heute noch tragen, schneide ich mir die Chorizo klein, die ich ins Bergnest getragen habe. Ich hatte ja die Illusion, dass ich am Stausee unten übernachten könnte. Das spanische Brot hat bei allen geschmacklichen Einbußen doch einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem deutschen: es wird nicht trockener, als es bei Kauf schon war.
Der Tag hat mich gefährlich zum Denken angeregt über das, was ich gerade tue. Über die Frage, ob man nicht vor seinem Fernseher besser aufgehoben ist als auf dem glühenden Asphalt der Extremadura.
Die letzten Kilometer vor Cañaveral jedenfalls war die Schildkröte schneller. Ich ahnte sie fast um die nächste Ecke fliehen, und kam ich dort an, dann sah ich nichts als wieder eine Ecke, um die gerade eine Schildkröte geflohen sein könnte. Die Kartenapp versicherte: Jetzt bist du gleich da. Und das Jetzt und das Gleich verschmolzen mit dem Nie zu einem Kompromiss aus Realität und Irrealem, den wir in der Mathematik Unendlichkeit nennen. Vor dem Ortseingang hätte ich meinen Durst um Haaresbreite aus einer Ablaufrinne gestillt, dann kam ein öffentlicher Trinkwasserspender, aus dem ich mit Genuss eineinhalb Liter fast kochendes Wasser saugte. Ich frage mich, für welche Sünden jemand so büßen muss oder kann.
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