Andalusien Monumental
Gerade lese ich den Namen einer Herberge Cigüeña. Das spanische Wort für Storch spricht sich Si-gu-en-ja aus, wobei das anlautende S durch die Zähne streicht wie fast ein Z. Man hört darin unschwer den Zigeuner heraus. Worte, die wir gerne meiden, gehen dem Spanier leichter von den Lippen. Der Zigeuner hieße im Spanischen Gitano, was sich CHitano ausspricht. Zigeuner zu sein, ist im Süden Spaniens eher Ehre als Makel, stammen doch die bekanntesten Gitarristen und Flamencotänzer/innen aus dem Kulturkreis der fahrenden Leute. Zigeuner bewohnen hier ganze Stadtteile. Granada beispielsweise hat ausgedehnte Viertel, in denen sie zuhause sind. Im Englischen nennt sich die meist weniger sesshafte Volksgruppe Gypsis, was angeblich an die Ägypter erinnert (E-Gyps-es), die beim Aufstieg des Islam durch ihren Glauben entwurzelt wurden. Mit ihnen ist daher auch der Mythos des antiken Wissens auf diese Menschen übergegangen. Dass der Storch namensgebend ist, könnte seinen Grund in dessen Lebensweise haben.
Man sieht hier allenthalben ihre Nester auf den erhöhten Punkten. Kein Kirchturm, Strommast, kaum eine Säule oder verwitterter Kamin ist vor ihnen sicher. Denn die Vögel kehren regelmäßig zu ihren Nestern zurück - oder zu denen ihrer Artgenossen, um dort zu brüten. Dann erweitern sie die Bauten und bessern sie aus, bis die schwindelerregenden Bauwerke das Gewicht von Kleinwagen erreichen. Das wird für die Statik manch eines Kirchturms zum Problem. Aber auch zu unvergesslichen Fotomotiven.
Wir haben uns auf unseren Reisen durch Andalusien häufig mit der Frage befasst, warum dieses Bild von Kirchtürmen ganz besonderer Bauart mit den auf den Türmen und Glockenstühlen nistenden Zigeunern gerade so typisch für Andalusien ist. Es hat mit der eigenen Geschichte des Landes zu tun. Es war 711, ein Schicksalsjahr für Spanien. Die iberische Halbinsel befand sich im Griff der Westgoten, die das römische Imperium hier beerbten. Sie waren Christen und hatten römische Tempel und christliche Gotteshäuser zu Basiliken, Kapellen und Kirchen ausgebaut. Wie sich das für ein Seefahrervolk gehört, drehten sie die bewährten Konstruktionen aus der Nautik einfach um und errichteten Kirchenschiffe mit Spanten und Kiel in Stein über ihren Köpfen. Doch sie zerstritten sich in Toledo und riefen die Mauren zu Hilfe, die im Schicksalsjahr übersetzten und Spanien schnell unter ihre Kontrolle brachten. Die Kirchen wichen Moscheen und ihre Türme Minaretten. Die Mauren bauten leicht nach oben sich verjüngende Türme auf den römisch-gotischen Fundamenten und verbauten dabei häufig im unteren Teil auch das Material, das sie an Säulen und Quadern aus der Antike vorgefunden hatten. Das Land hieß Al-Andalus nach den Vandalen, die vor den Goten durchgezogen waren. Andalusien stand unter dem Halbmond. Was sich an den Mezquiten deutlich zeigt. Gewölbe wurden in Hufeisenform errichtet, Ornamente ersetzten schmucklose Wände, Bilder und Fresken. Der Baustoff der Mauren war gemäß dem, was man aus Nordafrika kannte, Lehm, aus dem man Ziegeln brannte.
Als schließlich die Christen zurückkamen, um die Gotteshäuser umzuweihen, griffen sie vorhandene Stilelemente der Goten wieder auf, so entstand eine Mischung aus Gotik und dem Maurischen, das die neuen Herrscher über alles liebten. Sie mochten den arabischen Stil sosehr, dass sie maurische Bauleute beschäftigten, um ihre Paläste, Kirchen und Kathedralen zu errichten. Weil diese Mauren unterworfen waren, nannte man sie Unterworfene, Spanisch Mudejaren. Der Stil ist also mudéjar. Doch später kam ein Ereignis, das ganz Europa erschüttern sollte und vor allem Spanien und Portugal traf, das große Erdbeben von Lissabon 1755. Es veränderte das Bild der iberischen Halbinsel durch und durch. Nicht nur die Küstenlinie, ganze Städte wurden ausradiert, alle Bauwerke beeinträchtigt, Herrschaftsstrukturen erschüttert. Zu diesem Zeitpunkt war der Turm der Kathedrale von Sevilla das höchste Bauwerk überhaupt. Und wie alle Bauwerke, deren Höhe beträchtlich war, fielen die Kirch- und Glockentürme dem Beben bevorzugt zum Opfer. Meist waren es nur die Spitzen der doch stabilen Turmkonstruktionen, die in die Dächer der Kirchen stürzten. In diese Zeit des notwendigen Wiederaufbaus fiel die Epoche des spanischen Barock, sodass die Spitzen der maurischen Türme barocke Glockenstühle erhielten.
Die andalusische Kirche wurde zu einem Querschnitt der Stilepochen von der Antike bis zur damaligen Gegenwart, was sich bis heute in der absolut harmonischen Komposition der Bauten erhielt. Darauf dann die Störche, die überall da nisten, wo sie Nahrung finden und ihre Brut sicher wissen, und das Bild Südspaniens ist über ein Viertel Jahrtausend komplett.
Natürlich gehören die weissen Dörfer dazu und die versteppende Landschaft, Ölbaumhaine, Wein und ausgetrocknete Flüsse, Palmen, Orangen und Stiere, doch kaum etwas prägte das Bild Südwesteuropas so sehr wie Römer, Araber und Erdbeben. Das ist nicht nur in den Katalogen so. Es macht die Landschaft unverwechselbar. Ich hatte mir auf meinen Reiseleitungen angewöhnt, die beiden Schicksalsdaten von 711 und 1755 immer wieder zu erwähnen wie ein Dorfschullehrer, der die Mathematik der Betrachtung erklärt. Das dritte Ereignis, das uns auf unseren Reisen immer wieder begegnete wie der Swinigel im Märchen dem erschöpften Hasen, war Kolumbus‘ Entdeckung der neuen Welt, die sagenhafte 1492. Doch warum denke ich an erschöpfte Hasen, wenn ich über Zigeuner, Störche und einsame Kirchtürme schreibe? Womöglich weil die Zeit hier stillsteht. In diesem Patio im Konvent in Zafra unter der brütenden Sonne, während mein nicht mehr so kühles Bier vertrocknet.
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