Fiesta in Ayamonte
So in etwa ist meine Stimmung an diesem Mittwoch am Monatsende des Juni, als ich zum dritten Mal den kleinen Rucksack gepackt und wieder ausgepackt habe; immer mehr dessen, was ich anfangs hineingestopft hatte in der festen Überzeugung, dies und das noch dringend zu brauchen, häufte sich inzwischen rundum auf allen freien Flächen, bis die Essenz zurück geblieben war. Und davon noch zu viel. Schlafsack, Socken und Hängematte. Ich denke an Schlangen und Skorpione, die mir in die Schuhe kriechen werden, an Sonnenbrände und blutige Risse von Dornen, gegen die es keine Pflaster gibt. Unwettereinbrüche, Hitzewellen und eiskalte Nächte ohne Zelt. Ja, ich denke so vieles. Ich denke, dass ich mir zu viele Gedanken mache. Am Donnerstag habe ich mich endlich dazu durchgerungen, die ersten Nächte in den Dünen am Meer zu schlafen. Die Gegend kenne ich gut. Dort hatte ich Boxer, den Leihhund von Rod, gern ausgeführt. Boxer war es gleich, dass Hunde dort eigentlich verboten sind. Im Augenblick würde ich das auch nicht mehr tun, denn hier haben die Ferien begonnen, und die Strände füllen sich an jedem Wochenende aufs Neue. Spanier, die aus ihren überhitzten Städten fliehen. Auch dies ein Grund, nicht am Wochenende dort mit dem Schlafsack aufzutauchen. Also steht nun auch mein Entschluss schon fest, am Sonntag zu starten, wenn die Badegäste zurück nach Huelva, Sevilla und Madrid fahren. Ich schaue mir den Anfang dieses Weges etwas unentschlossen an und stelle fest, dass ich zumindest hier auf Wanderschuhe gern verzichten kann. Flip-Flops sind das beste Verkehrsmittel.
Denke ich, als der Abend kommt und mein Rucksack nun zum vielleicht zehnten Mal neu bepackt vor mir steht. Irgendwas beunruhigt mich beim Anblick der ersten Meter des Weges, der da vor mir liegt. Ich schmecke die Trockenheit und den Staub und blicke in die trostlose Weite und frage mich, was mich zieht und was mich hemmt. Ich fürchte etwas, und komme lange nicht darauf, was es ist. Ich fürchte, dass ich dort irgendwo verloren gehen werde. So verbringe ich meine Zeit vor dem Aufbruch mit der Vorstellung, dass diese Befürchtungen eigentlich der Grund dafür sind, klare Entschlüsse zu meiden. Wenn wir nämlich einmal den Entschluss gefasst hätten und es dann ließen, würden wir uns schlimmer mit unseren Enttäuschungen quälen, als es die Sonne da draußen könnte, Schlangen, Regen und falsche Schuhe. Am Abend lädt mich meine liebste (und kompetenteste) Reiseleiter-Kollegin noch zu einer Ausstellung in Ayamonte ein. Es geht um die Entdeckung Amerikas. Ein Fotograf hat Kolumbus in Szene gesetzt. Die Bilder sind magisch, entstanden in Moguer und Palos de la Frontera. Man könnte meinen, der Künstler hätte eine Mischung gefunden aus der Barockmalerei eines Velazquez oder Murillo und moderner Werbefotografie. Es sind nur sieben Exponate, und die kleine Gruppe, die sie bewundert, zählt kaum das Doppelte. Zwei Kinder springen zwischen den Künstlern, Fotografen und Guides aus Huelva herum und knipsen mit ihren Handys die schönsten Impressionen. Hätte keinen Sinn, selbst auf den Auslöser zu drücken; denn alles, was gesehen werden kann, wird von den beiden Kindern gesehen, die bei ihren Entdeckungen den Anschein vermitteln, als langweile sie die gesamte Szenerie. Tut sie aber nicht. Sie sind auf einer eigenen Entdeckungsreise.
Draußen auf dem kleinen Platz sammeln sich am selben Abend unversehens noch Musiker nach der Vernissage, mehrere Tische werden zusammen geschoben. Niemand hat damit gerechnet, dass sie beginnen würden, Musik zu machen. Wir sitzen zu einem kleinen Cocktail zusammen, und plötzlich geht es los. Der Abend entwickelt sich, als wäre er aus einem Werbefilm geschnitten, mit dem Touristen in den kleinen Grenzort gelockt werden sollen. Die Luft ist lauwarm, die Sterne klimpern über dem Viereck aus angrenzenden Dächern, aus den Häusern strömen immer mehr Menschen. Die Stühle werden knapp. Allmählich werden auch die Autos weniger, die um den engen Winkel rangieren müssen, weil die Ampel an der Hafenstraße gern durch das Viertel umfahren wird. Eine Woche zuvor noch hatte man mich auf die von der Urlauberwelle verursachte Knappheit an Zimmern und Betten hingewiesen, doch an diesem Abend tun sich gleich mehrere mögliche Unterkünfte auf. Für vertrauenswürdige Klienten wie mich. Später werde ich in den Extremaduranachrichten sehen, dass Spanier in spanischen Appartements nicht gern gesehen sind, weil sie die Zimmer häufig verwüsten.
An diesem lauen Sommerabend kommen die Zweifel. Über alles, was ich mir vorgenommen habe. Den Aufbruch, das Wandern, die vorgetäuschten Obdachlosigkeit auf dem andalusischen Jakobsweg. Kein Zurück: es ist alles gepackt und verräumt, meine Sevillanischen Freunde drängen mich, noch vor dem Wochenende an der Kathedrale den Pilgerausweis abzuholen. Die Idee hat sich längst selbstständig gemacht.
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