bloss dekorativ?
Laut Anmerkung eines Buchhändlers am Rande einer Lesung legen viele Kunden Romane schnell wieder aus der Hand, wenn sie bemerken, dass sie in der ersten Person geschrieben sind. Mögliche Ursachen für diese Abneigung der Leserschaft konnten wir beide nicht finden.
Dennoch blieb die Beobachtung und vermischte sich in der Folge mit anderen, die sich möglicherweise allmählich zu einem Gesamtbild ergänzen. Leser wünschen sich kritische Distanz zu ihren Protagonisten. Sie wünschen sich aber andererseits auch unbedingte, intime Nähe bis hin zur Identifikation. Das scheint paradox. Auf den ersten Blick.
Wie kann jemand, der Hauptfigur sein will, gleichzeitig auf eine distanzierte Berichtsform Wert legen? Der Ich-Erzähler oder die Ich-Erzählerin ist doch die einzig glaubwürdige Instanz zur Schilderung innerer Befindlichkeiten. Ein allwissender Erzähler macht sich eher lächerlich, wenn er seine im Kern natürlicher Weise eindimensionalen Gedankenwelten in die siamesischen Zwillinge unterschiedlicher Köpfe pflanzt. Aber diese geklonten Gedanken scheinen den Leser weniger zu irritieren als das unleidige Ich.
Beobachtungen zu meinem eigenen Leseverhalten zeigen mir, dass möglicherweise dem Erzähler der 3. Person bei nur geringem Verlust an Authentizität eine wesentlich höhere Objektivität zugestanden wird. Mit anderen Worten: Wenn jemand von einem Dritten spricht, sind Leser eher bereit, an ehrliche Absichten hinter der Kolportage zu glauben.
Ein Ich-Erzähler hat ein Anliegen. Der Er-Erzähler ist das Anliegen. In der Literatur der Jahrhundertwende 19/20 hat sich das in seltsamen Konstruktionen abgebildet. Es war üblich, im Vorspann seiner Geschichte einen Erzähler zu etablieren, der von den Geschehnissen selbst nur gehört habe, die er im folgenden so genau als möglich wieder zu geben ansetzt.
Dieses Stilmittel ist so antik, wie es auch weiterhin vererbt werden wird bis in alle Zukunft, denn es gewährt ausreichend Schutz vor dem Verdacht oberflächlicher Fiktionalität. Weitere seit Jahrtausenden probate Hilfsmittel mit dem gleichen Zweck sind journalistischer Stil, Lakonie in Wortwahl und Satzaufbau, das Zurück-Versetzen von Geschehnissen in historische Kontexte ...
Der Wunsch nach Glaubwürdigkeit und vor allem Bedeutung ist ungebrochen. Aktuell natürlich gerade wieder in Phasen weltpolitisch wichtiger Ereignisse. Es überschlagen sich Literaturen, die uns diese Ereignisse erklären, in richtige Zusammenhänge setzen oder aus der Sicht der Betroffenen schildern wollen.
Dass diese Schilderungen genauso Erfindung, bisweilen aus weiten räumlichen und kulturellen Distanzen heraus verfasst, sind, scheint für den Leser kaum sichtbar zu werden. Ein Roman, der aus der Sicht einer Person in einem Krisengebiet geschrieben ist, erhebt, erfüllt aber nicht den Anspruch, aus erster Hand zu berichten.
Im Gegensatz beispielsweise zu einem Roman, der von einer betroffenen Person selbst verfasst worden ist. Und hier stellt sich noch die Frage, ob diese betroffene Person tatsächlich selbst betroffen ist oder diese Betroffenheit nur aus Marketinggründen vortäuscht.
Manche Literatur täuscht eben auch Relevanz nur vor. Und das ziemlich arglistig, wie ich finde. In dieser Hinsicht habe ich den Eindruck, verläuft sich der Leserwunsch leicht im Labyrinth der Wahrnehmungsbedürfnisse.
Natürlich möchte ich eher annehmen, dass das ungeliebte Ich einfach die gewohnt eingeschränkte Perspektive sprengen soll, den Kasten auf dem Kopf mit dem einen Fischauge, aus dem heraus die Welt betrachtet wird. Aber das vielleicht erfolgreichste Erzählkonzept, das Pseudo-Ich konterkariert diese These.
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