Nur so ein Gefühl
Jürgen ist demprimiert.
Er hat depressive Schübe.
Er pflegt seine Depressionen.
Jürgen ist grenzwertig suizidal.
Gerade lese ich einen Artikel über die Fähigkeit von schnellen Computerprogrammen, mittels Sprachanalysen depressive Menschen besser erkennen zu können. Plakativ geht aus diesem Artikel hervor, dass depressive Menschen häufig in der ersten Person sprechen und sich in absolutistische Formeln flüchten, etwa wie -das beste, das mir je passiert ist- oder -ich habe nie und immer-
... alles Formeln, die aus jeder Shortmessage herausstechen, wenn man nur die Wörter zählt. Ausgewertet wurden unter anderem Texte (Tagebücher z.B.) von Depressiven und Menschen, die sich in den Freitod begaben. Allein die Wertung der Studien gibt mir zu denken. Jürgen ist depressiv, sagt das Programm. Was meinte Pecho aus Guacamole dazu und mit ihm Garnisonen von körperlich eingeschränkten Menschen (Minusválidos=Weniger Wertige): Wir sind nicht behindert, wir werden behindert.
Wenn man sich mit der Sprache eines Menschen befasst, sind kurze, plausibel scheinende Schlüsse nämlich nach meiner Erfahrung immer die falschen. Um es mal umzudeuten: Ein Mensch, der vereinsamt, spricht natürlicherweise von sich selbst, denn das Selbst ist die Erfahrung, der er am häufigsten begegnet. Im fehlenden Kontext eines sozialen Gefüges ist die Flucht ins Exorbitante, nämlich das Absolutum ein natürlicher Vorgang. Oder soll man Flucht anders benennen, zum Beispiel als Vertreibung? Wird oder wurde (zuvor) ein depressiver Mensch ausgegrenzt? Ist Depression (wenn wir uns nicht in lateinische Floskeln vergrüben und dabei auch die Wortwerte verlören) nicht in Wahrheit ein transitiver Vorgang?
Ein Mensch ist nicht deprimiert, er wird deprimiert. Soweit die Sprache, die ja gewöhnlich verräterrischer ist, als das ein Computer glauben mag. Aber ist es die Sprache des Objekts, das wir betrachten sollten oder die Sprache des Betrachters?
Wenn, sage ich mal einfach so hin, Jürgen seine Depressionen pflegt, dann ist er aktiver als man zugeben möchte. Denn er pflegt etwas. Wer aber kann solche Ansprüche an sich selber stellen? Andere mögen ihre Alufelgen pflegen und ihre Webpräsenz. Ist das besser? Ziehen wir doch die Felgen mal andersherum auf! Betrachten wir Jürgen, der mit der Welt nicht zurecht kommt, als Jürgen, mit dem die Welt nicht zurecht kommt. Betrachten wir seine Fähigkeit, durch sein Verhalten andere nicht zu schädigen, sondern Fehler in seinem Empfinden bei sich selbst therapieren zu wollen. Seine Pflege, seine Hingabe und sein gelegentliches Scheitern (Schübe). Kann es nicht sein, dass er in seinem Bestreben, sich anders zu verhalten als seine Umgebung das vermeintlich tut, gegen Zäune und Mauern läuft und dass sich daher seine Sprache allmählich in den Selbstbezug verwandelt? Dass er einfach nur darüber spricht, was er erlebt, und das in den angemessen(-st-)en Worten?
Was ist mit Descartes, der sich von allem unverlässlichen Wissen trennend, in die selbstbezogene und an Absolutismus kaum zu übertreffende Formel -Ich denke, also bin ich- hineinmanövriert hat? Zwei Ich-s in fünf Worten, und dabei stammen die Worte nicht einmal von ihm direkt.
Kurzum: wäre es nicht sinnvoller, dieses Computerprogramm noch einmal laufen zu lassen mit geänderter Prämisse, nämlich: Wie erkennen wir schnell an der Sprache die Ausgrenzung, die von beiden Seiten her stattfinden könnte? Und verhindern nach Möglichkeit das, was sich da Unschönes abzeichnet? Denken wir doch mal einen Moment über sprachliche Werke nach, die mit -Mein- beginnen und auf -Kampf- enden, und was darin alles an Prophezeiungen zu finden ist!
Sprache ist verräterisch. Glücklicherweise. Denn wenn sie das nicht wäre, hätte die Lüge freies Schalten. Vielleicht zeichnet es Jürgen aus, dass er ein schlechter Lügner ist. Vielleicht könnte er das besser. Würde sich auch in seinem Bewerbungsschreiben besser machen, in seiner Steuererklärung und seinen Freundschaften mehr Aufwind geben. Diese Computeranalyse irrt sicher nicht. Aber die Deutung der Ergebnisse, tja, sollte skeptisch machen. Zwischen all den plausibel wirkenden Zahlen versteckt sich doch wie immer der Kern einer Weltanschauung, die vor der Analyse bereits den Programmierer bewegte. Und hier die Frage: Ist diese zugrunde liegende Vorstellung richtig?
Jürgen sagt nein. Weiß der Teufel, was er sich dabei denkt. Ich denke, ich muss mich mal mit ihm darüber unterhalten. Ist besser für meine Psyche, als sich mit dem Computer über ihn zu informieren. Nur so ein Gefühl ...
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