Kompensation

Da sind diese zehn Typen, eingesperrt im alten Bergwerk. Erzbergwerk, aber das spielt hier keine Rolle. Vielleicht doch, denn im Erzbergwerk sind die Stollen massiver als in Kohle oder Schiefer. Und sie liegen nicht unter einer leichten Tuffschicht wie die Ofenkaulen und Mühlsteinhöhlen. Da unten also sitzen zehn Typen fest. Ich sage Typen, obwohl Frauen wie Männer und Kinder drunter sind wie eben in jeder Besichtigungsgruppe. Eine Art representativer Querschnitt durch die Gesellschaft. Wir wollen nicht darüber diskutieren, ob representative Gruppen Bergwerke besichtigen und statistisch genau in Zehnergruppen passen, es ist einfach so. Da unten hocken zehn Leute, wie man sie willkürlich Nachmittags um sechs von der Straßen holen könnte. Oder aus dem Kaufhaus. Vielleicht auch aus dem SUV. Die sitzen dort fest, weil irgendwas eingestürzt ist, und sie kommen nicht mehr raus. Es gibt kaum Licht, und der Strom wird knapp, und alle sitzen um eine Funzel herum und diskutieren ihr Leid. Einer sitzt abseits. Was passiert?

Neun bilden einen Rat. Der Rat soll ihre Probleme lösen. Er soll nach demokratischen Prinzipien einen Anführer wählen, der dann zu bestimmen hat. Man hat sich nach langem Warten und Entschlusslosigkeit darauf geeinigt, denn irgendwas muss schließlich passieren. Irgendwas. Es sieht auch garnicht so übel aus. Sagt der Rat, der sich firmiert und zuversichtlich ist, dass durch diesen Schritt nun alle Probleme - naja, wenn nicht gelöst sind, dann doch auf einem guten Weg. Der Grund: Es gibt einen Lapi... na, ist auch egal: einen Steineklopfer, um es scherzhaft zu sagen. Jemanden, der in alte Steinbrüche geht und Fossilien ausgräbt. Ein solcher ist unter ihnen, was zusammen mit dem pensionierten Architekten und dem Sohn eines Straßenbauunternehmers schon an ein Expertengremium grenzt. Die Experten werden die Sache begutachten und eine Lösung finden, da sind sich alle sicher.

Doch dazu muss dieser Rat - und das einstimmig - funktionstüchtig werden. Ja, so sagen sie, funktionstüchtig. Der abseits Sitzende schlägt vor, man solle ein anderes Wort verwenden wie: handlungsfähig oder geschäftstüchtig. Man solle auch in Ruhe über Wortwahl und Konzepte nachdenken und dabei möglichst die Klappe halten, weil jede politische Debatte nur Sauerstoff verbraucht. Und dabei nichts als Nervosität erzeuge und vernichte. Sauerstoff aber sei knapp. Der Rat denkt also über Maßnahmen nach, dem Aussenseiter - nicht fürs Protokoll, aber das muss hier mal in klaren Worten...: das Maul zu stopfen. Einstimmigkeit ist Voraussetzung dafür, dass wir jemals hier heraus kommen werden. Und dafür, schallt es aus der Ecke, brauchen wir einen Führer.

Stille, dann Entrüstung, dann Entsetzen über das Wort, dann steht einer auf und schlägt Gewalt als Lösung vor. Einigkeit ist das Grundprinzip, nach dem eine Gesellschaft funktioniert, wenn sie in Schwierigkeiten steckt, und jetzt muss man zusammen halten. Und Recht und Freiheit auf Platz zwei und drei. Die letzte Bemerkung ist zuviel. Es fliegt eine Faust, und eine Frau juchzt auf, man müsse sich anders einigen. IHR Männer, ruft sie verzweifelt in Richtung des Dissidenten. Anstatt zusammen zu arbeiten, müsst ihr hier euer Ego polieren. Hört auf damit! Ein wahres Wort, das sofort einstimmig angenommen wird. Der Aussenseiter soll sich fügen. Zumindest, bis wir wieder draußen sind. Und der Gewalttäter soll sich setzen. Recht hat er ja, es sind nur die falschen Mittel. Der Mann ballt die Faust.

Inzwischen spricht sich herum, dass der Sauerstoff allmählich knapper wird. Irgendwer hat da ein Instrument, um sowas zu messen. Irgendwer ist acht Jahre alt und wird demnächst neun. Sag ich's doch, sagt der Präsident, den sie noch nicht gewählt haben, weil das Plenum ja nicht beschlussfähig ist, weil der Querulant noch immer queruliert und jede Lösung damit verhindert, wir müssen jetzt schleunigst was tun. Das Maul halten, schlägt der Abseitige vor. Woraufhin der Schläger wieder aufsteht und die Frau wieder hysterisch wird und der Präsident seine Krawatte richtet, um eine Rede an die Nation zu halten. In der Stunde, in der es auf Einigkeit mehr denn je ankommt. Ein Mädchen steht auf und singt Ave Maria. Wir Kinder wollen, sagt sie, dass alles anders wird, friedlicher und gerechter. Jeder soll seinen Beitrag leisten, damit alle wieder atmen können.

Notfalls mit Gewalt, stimmt ihre Mutter ein. Das Mädchen stockt im Text. Wie ging das Ave Maria noch weiter? Egal, alle sind glücklich. Und der führer nimmt das Mädchen in die Arme. Eine moderne Kassandra. Doch genau genommen, tja, sollten wir auch in solchen Momenten, sagt der Aussenseiter, daran denken, dass Singen den Sauerstoff knapp macht. Spielverderber ist vielleicht angesichts der Ernstes der Lage, das falsche Wort. Jetzt platzt dem Gremium der Kragen. Gewalt wird offiziell als Ultima Ratio ... doch eine Wortmeldung hält den erklärten Täter (mit der erhobenen Faust) davon ab, exekutiv zu werden: Der Expertenrat ist auch ohne offizielles Mandat beschlussreif geworden. Genau genommen, eine Option für die Zukunft, die man erarbeitet hat, wurde beschlussreif. Die soll nun dem Rat vorgelegt werden, damit man sie absegnen kann.

Lass hören!

Nun, man dürfe natürlich weiterhin - wir sind ja freie Bürger - Sauerstoff verbrauchen, dass es kracht, nur müsse jeder, der das tut, kompensieren. Das hätten sie sich gedacht. Langfristig wäre das sicher hilfreich, das Klima zu verbessern. Die Kompensation geht so: jeder, der redet, muss anschließend zehn Liegestützen machen. Eine wahrhaft sermonische Lösung. Nach zwanzig Stunden lebt (ehm: redet) keiner mehr.

Nein, es ist kein Wink mit dem moralischen Zeigefinger. Sondern ein Gespräch von drei angetrunkenen Skatspielern, die in einer griechischen Taverne (und das auch noch in Athen) hocken. Und es stinkt nach irgendwas, denn die Toiletten entsprechen nicht europäischen Standards, und außerdem liegen sie im Keller, was Bilder von Verschütteten erzeugt. Aber der Auslöser des Gedankens ist der, dass einer ganz dringend mal zum Königstigern muss, und die anderen diskutieren über den letzten Ramsch. Einer ist hier Skatspieler, und es geht darum, wer die Rechnung bezahlt ... sagen wir so. Mann, sagt der, der die Hose voll hat: wir sollten aufhören zu diskutieren und weiterspielen.