Was Wäre Wenn?
Im Saal sitzen zweihundert Zuhörer. Ich lächle breit. Scheinwerfer auf meinem Gesicht. In der Hand halte ich ein schwarzes Tuch. Ich frage: Was wäre wenn ich mir jetzt die Augen verbände, runter ins Publikum ginge und irgendeiner zufällig ausgewählten Person Eine scheuerte. (Sie wissen, dass es nicht unbedingt eine Person aus der ersten Reihe treffen muss. Sie ahnen, dass es Menschen gibt, die sich jetzt unter ihrem Stuhl verkriechen könnten, es würde sie trotzdem treffen. Weil manche Menschen einfach diese eine Person sind, die es immer erwischt.) Also: Wer von Ihnen hat das Gefühl, Sie wären genau diese Person, die den Ohrwatschen abkriegt? Wollen wir es ausprobieren?
Hände hoch! Zaghaft heben sich einzelne Hände. Jeder, der seinen Arm hebt, blickt sich nach den Nachbarn um, schaut in die Runde. Die anderen starren geradewegs zur Bühne hoch. Bloß keine Blöße. Nun wackeln doch vereinzelt Köpfe und die eine oder andere zusätzliche Hand hebt sich, bis ein gewisses Ruhepotential sichtbar wird, das der Angst. Verunsicherung, das Gefühl der Benachteiligung durch eine höhere Macht. Es ist allgegenwärtig. Doch -hm- noch ist es ein Makel derjenigen, die immer die Blitze auf sich ziehen. Klar, sage ich, wer ehrlich ist, kriegt immer die Watschen.
War eigentlich auch schon immer so. Denn der, der den Tiefschlag erwartet, verkriecht sich nicht unterm Stuhl. Gleich heben sich noch ein paar mutige Finger. Die der Fraktion der Ehrlichen angehören wollen, aber vorher den Mut möglicherweise nicht hatten. Und nun gehen noch mehr verstohlene Blicke herum und warten ungeduldig, dass die schwarze Augenbinde endlich zum Einsatz kommt. Oder wenigstens die Beleuchter ein Erbarmen haben. Doch sie halten drauf und scannen das Publikum. Unruhe wird breit. Jetzt schnellen doch noch verlegen Finger in die Höhe, denn keiner will der Ausgegrenzte sein, dem es als einzigem gut geht. Und alle lächeln breit.
Und plötzlich sind fast alle Finger in der Luft. Nur wenige halten sich ruhig. Gegenprobe, sage ich: Wer von Ihnen meint, er sei sicher nicht dieser Typ, der es abkriegt? Nun gehen erneut die Blicke herum. Aber diesmal sind es die anderen. Diejenigen, die vorher ihre Hand nicht hoben. Sie mustern sich gegenseitig, und es wird klar, dass sie sich alle genau beobachtet haben. Jeder von ihnen hat von jedem anderen gewusst, der sich nicht am Spiel beteiligt. Und nun beobachten sie, wer die stärksten Nerven hat. Was ist die Übung?
Nur nicht aus der Gruppe zu ragen. Niemals auch nur einen Schritt aus der Masse zu tun. Schmerzhafte, peinliche Momente, in denen es besser wäre, wir wären alle nicht da. Möglicherweise werden einige der Nichtaufzeiger jetzt schon über Fluchtwege nachdenken oder abwägen, ob sie jetzt Entrüstung inszenieren oder milde lächelnd Überlegenheit zeigen sollen. Es ist vielleicht Karneval, da fliegt man leicht mit Bierernst auf den Bauch. Die Ohrfeige um jeden Preis zu vermeiden, heißt doch so weit wie möglich untertauchen.
Unverschämtheit, hört man eine Dame sagen. Sie springt auf. Die Bühne wird dunkel. Das Publikum verunsichert sich selbst. Wer die Ohrfeige abkriegt? Immer der Ehrlichste, behauptet draußen am Gang ein Riesenplakat. Doch die, die bis zur Selbstverleugnung unehrlich sind, werden es nicht sehen, denn sie rennen daran vorbei. Entrüstung im Blick über die Unverfrorenheit, ein solch mieses Spiel mit dem Publikum zu treiben. Schließlich fängt in ihrem Rücken die Musik zu spielen an. Trara-trara, alles nur ein Witz. Gedankenexperiment. Was Wäre Wenn. Natürlich ist das nie passiert.
Aber es gibt mir zu denken. Und dem, der als allererster aufgezeigt hat. Es war übrigens eine Frau. In meinem Gedankenexperiment. Sie war übergewichtig, hatte einen verängstigten Blick und trug ein unvorteilhaftes Kleid. Ich werde solche Gedankenexperimente mal lassen, denn sie verderben mir das Frühstück.
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