Hyperaktiv

Lese jetzt zum dritten Mal, dass nichts den Leser stärker abschreckt als ein passiver Protagonist. Und obwohl diese Aussage, den Tatsachen trotzend, einem Philip Roth und seinem Portnoy, Umberto Ecos William oder Taverniers Lucien Cordier jede Chance auf Erfolg abspricht, scheint die dahinter steckende Beobachtung in Literaturkreisen doch weit verbreitet zu sein. Und damit absolute Wirklichkeit.

Der Leser und die Leserin legen ein Buch sofort zur Seite, wenn jemand zwischen den Seiten nachdenkt statt zu handeln. Nein, es ist geradezu ein Qualitätsmerkmal, seine Protagonisten unter der Flagge des hemmungslosen Pragmatismus die dämlichsten Fehler begehen zu lassen, um hinterher in peinlichem Fleiß die (meist absehbaren) Folgen durchzudeklinieren.

Die Griechen waren anders. Sie hatten den Pro- und den Epimetheus. Beides Titanen und den Menschen zugeneigt. Der eine dachte vorher, der andere hernach. Und beide bekommen eine Zeile im Text, nämlich exakt die, dass es so war. Don’t show it, tell it - denn das spart ungemein Zeit. So kamen die Übel in die Welt.

Warum also erzählen, wie genau Epimetheus die Schachtel öffnete, wie die Schachtel ausgesehen hat, wer sie aus welchem Holz fertigte und wie sie roch? In welcher Minute der Spielzeit wer zögernd und dann doch den Deckel hob und welchen Elfer vergeigte? Warum zeigen, dass und wie AKTIV Epimetheus seinen Fehler beging? Und wer erinnert sich an dessen Kindheit? Und welche Spielschulden er hatte? Wer sich in welchem Londoner Pub mit ihm anlegen wollte und wie Epimetheus darauf reagierte? Wer will wissen, in welcher Spezialeinheit der Marines er diente, bis dieser Vorfall ihn fast das Leben gekostet hätte, dessentwegen er heute noch durch die Welt tingelt und Kisten mit der Aufschrift PANDORA öffnet? Antwort: alle.

Vielleicht sollten wir einfach mal anders herum fragen. Nicht, was eine Geschichte zu allen Zeiten ausmachte und erfolgreich ankommen ließ. Vielleicht sollten wir uns fragen, warum in unseren Geschichten heute Helden, die denken, so fehl am Platz sind, dass wir sie meiden müssen wie die Pest.

Warum zum Beispiel wäre es so überaus langweilig, die exakt selbe Geschichte von Epimetheus’ Bruder Prometheus zu lesen, der auch in einer Spezialeinheit war, auch seit jenem Vorfall mit dem Feuer um die Welt tingelt, sich die Leber in Londoner Kneipen versäuft (The Caucasian Eagle) und am Ende der Story die Kiste auf seinen Knien vorsorglich NICHT öffnet, weil er nicht so dumm ist wie sein Bruder? Warum?

Weil möglicherweise unsere Erwartungshaltung dann enttäuscht wäre, wenn wir dieses ganze langweilige Tagesgeschäft der Vorabendserien in uns hinein gefressen hätten und der Trottel am Ende doch noch die Kurve kriegt. Wir wären maßlos enttäuscht. Denn, mal Hand aufs Herz, wir wollen doch, dass die Dummheit siegt. Sonst würden wir nicht lesen. Klug sind wir doch selbst. Oder?

Es ist geradezu die Definition von Unterhaltung, die uns das Lektorat hier gibt. Unterhaltung ist ja an sich ein so abgenudeltes Wort, dass jeder mittlerweile ein Bild davon hat, was es eigentlich sagt, ohne sich mit Details der Herkunft abzugeben. Unterhaltung ist der Unterhalt. Es ist das, was ein stehendes Heer an Kosten verschlingt. Es ist die Kfz-Versicherung für ein Auto, das nur in der Garage steht. Es ist ein Lesergehirn im Leerlauf. Unterhaltung heißt, jemanden so lange mit der Vorgruppe zu beschäftigen, bis er vergessen hat, was eigentlich im Konzert gespielt wird.

Nuja. Und da sind wir dann bei den aktiven Helden und ihren Geschichten, die meistens gar keine Geschichten sind. Und fast immer nicht neu. Sie sind die Reklametafeln eines Restaurants, in dem es überwiegend nichts zu essen gibt. Weshalb dann in ein Restaurant gehen, das nicht einmal eine Reklametafel heraus hängt?

Möglicherweise ist es eine Frage des Marketing. Dann wäre der aktive Protagonist, wenngleich eine mögliche Zeiterscheinung doch berechtigter Teil einer funktionierenden Geschichte. Funktionierend in dem Sinne, der KEINEM Lit-Experten gefällt. Es könnte aber auch sein, dass der aktive Held nicht mehr als ein Klischee auf einer Reklametafel ist für Lektoren, Agenten und Verleger, die NUR noch Reklametafeln, jedoch keine Manuskripte mehr lesen. Und die sich genauso auch den Leser wünschen. Eine Vorgruppe ohne Ende.