Zoon Politikon

In gewisser Weise spiegelt Kriminalroman auch das menschliche Unvermögen wider, Dinge ungeregelt zu lassen. Noller und Wörtche über das Politische im KrimiDie unerträgliche Regellosigkeit unseres Daseins erfährt ihre Linderung durch die schonungslose Anwendung eines moralischen Regelwerks auf auch den letzten der menschlichen Lebensbereiche. Neben jeder Milchkanne ein literarischer Dorfpolizist, im Tierreich Ermittler, Scharf- und Richter, jedes Ferienziel wurde und wird von einem Serienhelden/-heldin heimgesucht. Vom Nordkap bis zum Kap der Guten Hoffnung entscheiden Figuren, die deutscher nicht sein könnten, über Recht- und Unrechtmäßigkeit des menschlichen Verhaltens. Warum?

Warum, möchte man sich fragen, darf der Nachbar seine Hütte erst bauen, wenn er einen armdicken Stapel Genehmigungen eingeholt und Erklärungen abgegeben hat? Warum die Schädlichkeit eines Fahrzeugs klassifizieren, um nach dem Betrug des Verfahrens durch den Hersteller darüber zu diskutieren, inwieweit sich der Betrüger vom anderen strafrechtlich unterscheidet, der das Verfahren auf andere Weise aushebelt und somit ein klein wenig regelkonformer spielt als der andere? Warum Abmahnbüros finanzieren, wenn man doch eigentlich nur Musik machen, malen oder ein Buch schreiben will? Warum sehen Menschen ihre Bestimmung darin, bevor sie leben, zunächst einmal eine tausendseitige Spieleanleitung dafür zu schreiben?

Möglicherweise ist der Krimi hier selbstreferentiell. Er erhält seine Berechtigung aus dem eigenen Inhalt. Jeder Krimi legt Maßstäbe fest und an und verknüpft sie mit sympathischen und antipathischen Figuren. Er emotionalisiert das Regelwerk und bietet in der Regel am Ende auch noch eine Strafe für Zuwiderhandlung an. Sprich: er straft denjenigen, der den Anspruch der Lektüre ignoriert, symbolisch als Täter ab. Denn die Guten sind wie immer wir, die wir dem Faden des Erzählers vorbehaltlos folgen. Die Üblen sind die, die sich der Logik der Moral verweigern. Und die Moral wird durch jeden Band festgezurrt, bis kein Atmen mehr ist.

Man stelle sich einen Krimi vor, in dessen ersten drei Seiten sich Kommissar und Kommissarin über eine Leiche beugen: Na, irgendwas wird er schon falsch gemacht haben, sonst läge er ja nicht da. Recht hast, komm, wir gehn nach Hause, bevor da noch jemand mit DNA und Zeugen kommt. Und dann folgten zweihundert Seiten Brunettis Gesülze über untreue Frauen, Grappa und Olivenöl, bis auf der letzten Seite der Täter schließlich selbst gesteht, weil ... ja, es ihm vor lauter gutem Leben in der Toskana einfach langweilig wird, nur über Mediterranes zu schwätzen. Und weil der Comissario so schlau ist, klopft er dem Täter anerkennend auf die Schulter und spricht: exakt das hatte ich mir gleich am Anfang gedacht.

Wäre auch ein schönes Konzept, um den Tatort mit dem Format der Kochsendung zu verschmelzen. Die unappetitlichen Laborszenen und sozialkritischen Anfeindungen blieben dem Zuschauer weitgehend erspart. Aber es ist eben mal so, dass wir gerade dieses mühselige Gewate im Vorschriften- und Gesetzedschungel so überaus lieben. Kennt der Täter die Spielregeln besser als der Ermittler, oder der Zuschauer besser als der Autor? Die Spielregeln des Lebens. So in etwa die Messe, die jeder Krimi zelebriert wie ein Steuerformular, dessen suggestive Kraft allein durch die jungfräuliche Leere seiner Felder wirkt.

Im Grunde ist Krimi damit auch eine Art von MRT der eigenen Seele. Wir versetzen die magnetischen Pendel in Resonanz und messen, ob sie alle auch schön eingenordet sind. Auf diese Weise erkennen wir, ob es entartete Zellen gibt, deren genetischer Code möglicherweise von der Mustersequenz in der befruchteten Stammzelle abweicht. Die Angst vor der minimalen Toleranz, in deren Klüften sich das Monster der menschlichen Bosheit versteckt, sitzt eben tief. Wir vermuten sie, und da hilft der Krimi tatkräftig, Entlastung zu schaffen, wir vermuten sie hinter jeder Milchkanne. Nur nicht im Regelwerk selbst.