Die Reise ...
An diesem Tag schleifte er sie an den Fußgelenken zum Fenster und hob sie auf den Sims. Sie schrie und weinte, doch das störte ihn nicht. Er war zu betrunken. Er ließ sie vornüber zum Fenster hinaus stürzen und hielt sie an ihrer Denim Jeans fest. Sie rutschte ihm aus den Händen, sodass er sie weiter unten fasste. Am Ende hatte er nur noch ihre Fußgelenke in der Hand und eine Schlaufe einer ihrer Schuhe. Eine Woche darauf schoß er mit einer Jagdflinte in die Decke, um dort Mäuse zu vertreiben. Auf dem Tisch stand eine Schachtel mit Schrotmunition. Jedes Mal, wenn er seine Ladung verschossen hatte, ging er zum Tisch, schenkte sich einen Calvados ein, lud die Waffe nach, spülte den Schnaps herunter und ging wieder schießen. Der Rest versteckte sich im Haus. Niemand wagte, die Carabinieri zu rufen, weil man befürchtete, alles würde dann noch schlimmer werden. Einige Tage darauf entschloss sich John, das Trinken aufzugeben. Die beiden verbummelten einen wunderschönen Tag in der Innenstadt. Sie gingen ins Eiscafé und zum Strand und kamen schließlich wieder an die Piazza. Dort bemerkte John, dass man sich über ihn lustig machte. Er habe einen der Kellner Cornuto über ihn sagen hören. John wollte in der Bar eine Schlägerei anzetteln. Zwei Polizisten, die zufällig zugegen waren, vermittelten wohlwollend zu seinen Gunsten, sodass sich der Aufruhr legte. Dabei allerdings wurden einige Drinks genommen, um die Situation zu entspannen. Gegen Abend, als sich der Sturm gelegt hatte, bemerkte John, dass Carol nicht mehr anwesend war. Sie hatte sich vier Stunden vorher nach Hause begeben. Es war ihm nicht aufgefallen. Er redet von sich gern als von dem Silberrücken. Davon ist nichts zu sehen, wenn er nüchtern ist. Er kam zum Alkohol wie Georges Simenon. Simenon hatte mit vierzehn begonnen, Eau de Vie zu nippen, das dazu diente, Krüge mit Wachspapier zu versiegeln. Was er dem Flakon entnahm, füllte er mit Wasser auf. Ähnliches tat John, doch hielt er sich an den offenen Wein im Keller seines Vaters. Dabei entdeckte er das Geheimnis der Hochzeit von Kanaa, wie er es nannte. Jesus hatte dort Wasser in Wein gewandelt, als der Wein knapp wurde. Hier nun erkannte John, dass er selbst Jesus ähnlich war. Was er dem Wein entnahm, füllte er mit Wasser. Der Wein wurde dadurch wässrig, aber es war immer noch Wein. Als er sich zu fragen begann, wie lange dieses Spiel so gehen könne, fand er die Unendlichkeit. Es würde immer Wein in der Korbflasche sein, ganz gleich, wie oft er welchen entnehme und Wasser nachfülle. Es sei denn, er leere eines Tages diese Flasche ganz. Dieses Ritual, Wasser in Wein zu wandeln, hatten die Iren perfektioniert. Bei ihnen galt es als eine Art heiliger Regel, dass in jedem Haushalt, in dem es (junge) Männer gab, Whiskey verdampfte. Diesem Angels Share versuchte man hier und da vorzubeugen, indem der Hausherr mit einem Stift die Pegelstände seiner Flaschen markierte, doch begann nun die Verwässerung. Der einsame schnelle Schluck, der gleich darauf durch Wasser ausgeglichen wurde, verkam zu einem nationalen Ritual. Saufen hatte einen so hohen gesellschaftlichen Status, dass man umgekehrt jenen Männern misstraute, die abstinent bleiben wollten. Als müsste jeder, der seine Triebe nicht mit Alkohol unter Kontrolle hielt, ein Kinderschänder sein, so wie eine Frau, die sich nicht in Gebeten und Beichten erging, zwangsläufig als Hure zu gelten habe. Es geht diesem Typus Trinker nicht um die Gesellschaft oder das Ambiente. Er geht auf eine Party mit Leuten, die ihn anwidern, anekeln oder die ihm bestenfalls egal sind. Er tut dies in der Aussicht, nicht in unnötige Gespräche verwickelt zu werden, nicht beobachtet zu sein und unter Kontrolle zu stehen. Er geht auf die Party, weil er weiß, dass die Gastgeber eine reichhaltige Auswahl an Getränken bereitstellen und mit diesen Getränken nicht haushalten. Wer eine Flasche Gin auf dem obersten Regalbrett seiner Bar stehen hat und in die Runde fragt, ob jemand einen Drink möge, der ist als Gastgeber unbrauchbar. Wer hingegen eine Kiste mit Gin in einer Kellernische deponiert, daneben Eis und Limonen, in einer anderen Ecke Wein und noch woanders Whisky, Bier und Campari, während an der Bar Mojitos gemixt werden, der hat gute Karten, in John einen treuen Gast zu finden. Hin und wieder sorgt John dort für Aufmerksamkeit, beginnt einen Streit, wird ausfällig und vergrault einen, der ihm an der Wasserstelle zu nahe kam. Er ist mürrisch und hinterlässt diesen von Kritikern so geliebten Eindruck des Intellektuellen, der auch im Rausch noch ein scharfes Wort zu wetzen weiß, doch sind bei näherem Hinsehen seine Tiraden allzu häufig abgeschmackt oder abgekupfert. Und nicht nur einmal schleicht er sich noch nachts mit einer der Gin-Flaschen aus dem Haus und ward nicht mehr gesehen, meist eingeleitet von einem bockigen Gezeter um eifersüchtig vorgetragenes Kunstsachverständnis. Gefragt, weshalb er solange so wenig erfolgreich geschrieben habe, sagt er je nach Pegelstand völlig ehrlich oder streitet er lügnerisch (denn jeder Alkoholiker ist im wahren Leben ein Lügner) ab, er habe nicht den Mut gehabt, sich anständig zu besaufen, sich vollständig seinem Dämon hinzugeben und die Reise anzutreten, die jeder antritt, der sich mit Andacht und System betrinkt. Denn Alkohol sei Selbstmord auf Raten, und dazu sei er bislang zu feige gewesen. Seit er aber seine Bestimmung erkannte, habe John mangels Alternativen seine Reise angetreten.
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