Schnösel
Hunt und ich kommen gerade vom Barfußspaziergang zurück. Hunt braucht ja keine Schuhe, bei mir ist das mehr so eine Art versnobter Sport, ihn ohne Latschen auf seinen Schnüffeltouren zu begleiten. Die Leute reagieren verstört, wenn man welche trifft. Einem erwachsenen Mann ohne Schuhe zu begegnen, irritiert sie bestenfalls oder verängstigt sogar, vor allem, wenn er kein Penner ist. Die Lady kannte ich nicht. Sie hatte auch einen Hund dabei, ein schwarzes Wesen ohne jeden Charakter. Sie fragt mich also, ob ich der Kerl wäre, der drei Jahre im Tipi gelebt hätte.
Weil ich irgendwas sagen wollte, sagte ich ja. Nein hätte genauso gut gepasst. Nicht lange her, dass ich ein Buch gelesen habe, in dem ein Bursche mit einem australischen Holzrüssel im Gesicht irgendwo im Wald hockt und von Zeit zu Zeit heraus kommt, um verschwundene Kinder zu finden. Schien, als sähe die Frau mit dem schwarzen Köter in mir den Kerl, der die Kinder im Wald versteckt.
Weder das eine, noch das andere. Ganze drei Tage habe ich in diesem Zelt gelebt, dann wurde es langweilig. Man lernt einen gewissen Luxus zu schätzen, wenn’s regnet. Außer den Jungs, die sich aktuell auf den Ironman vorbereiten müssen oder für das Überleben nach dem dritten Weltkrieg trainieren. Die meisten Leute haben mächtig einen an der Klatsche. Es merkt nur keiner. Ironman ist auch eine der Geschichten, die ich schon mal rund gehen lasse, wenn mich jemand auf die fehlenden Schuhe anspricht. Drei, vier Mal im Jahr überkommt’s mich, und ich gehe barfuß mit dem Hunt raus, und jedes Mal spricht mich irgendeine durchgeknallte Tante nicht darauf an. Das macht erfinderisch.
Hunt, sage ich und schaufele Dosenfutter in seinen Napf von der einzigen Sorte, die er dauernd fressen kann, weil es wahrscheinlich auch die teuerste ist, mit Kräutern und allem, Hunt, sage ich, Ihr Auftrag, sollten Sie ihn annehmen, lautet: finden Sie Mister X, stellen Sie die geheimen Unterlagen sicher und eliminieren Sie sämtliche Auftraggeber! Ich selbst streite in der Zwischenzeit jegliche Beteiligung ab und behaupte im Tipi zu wohnen. Sie sind auf sich allein gestellt. Diese Nachricht wird sich in siebzehn Sekunden selbst zerstören. Ich blicke auf die Uhr. Hunt macht sich über das Futter her, Kaninchen mit ausgesuchten Kräutern. Scheiß Versager, die nicht die nötige Knete haben, um ihre Haustiere mit Sterneküche voll zu stopfen! Siebzehn Sekunden, auf den Punkt. Alles weg. Jeden Tag verschwindet so ein Eimer Fleisch im Hunt, und es kommt nichts als Scheiße dabei raus. Naja, steckt wahrscheinlich ein kosmischer Plan dahinter.
Mister X kommt in der Geschichte vor, die mir die Tante am Waldrand erzählt hat. Ich habe mich mit der Story revanchiert von dem Polen, der unten an den Fischteichen arbeitet und einen verletzten Köter von der Straße aufgelesen hat, einen ganzen Monatslohn in die OP reingesteckt und ihn später erst adoptiert. Tierlieber Geselle. Ziemlich anspruchslos. Seine Füße sind in Gummistiefeln festgewachsen. An seinem Arbeitsplatz vielleicht gar kein Fehler. Jury sagt über seine Laika: Dieser Chund chat kein Kultur. Meiner schon. Nur vom feinsten. Wenn der ein Knöchelchen in seinem Napf findet, schaut er mich angewidert über seinen Napf hinweg an, als stünde er knapp vor dem Entscheid, den Tierschutz zu alarmieren.
Aber immer noch geht mir diese bizarre Begegnung durch den Kopf und das Tipi ohne Schuhe! Wenn Leute einem irgendeinen Tratsch auftischen, dann erwarten sie eine etwa gleich valide Belohnung. Sie hoffen natürlich zu erfahren, warum ein reicher Schnösel barfuß durch den Wald rennt. Entsprechend haarsträubend sind ihre Geschichten. Die Klatschbasen gehen massiv in Vorleistung, weil sie hoffen, dass sich ihre Offenheit im Gegenzug auszahlen wird. Meine Geschichte allerdings war dafür zu mager, zu beliebig, zu wenig pikant. Nicht intim. Jury kannte sie schon, Laika auch, wußte allerdings nicht, dass sie das sind. Manchmal bin ich selbst verwirrt. Daß sie das sind? Daß sie was sind? Dieser Satellitenhund hieß, glaube ich, auch Laika, aber der ist ja schon tot. Außerdem war es ein russischer Straßenköter und kein Pole. Wenn der da oben aus seiner Kapsel gefallen wäre, hätten wir alle eine Erklärung für die Operationskosten. Veterinäre nehmen es ja von den Lebenden. Naja, Humanmedizin ist in diesem Punkt nicht viel humaner.
Vorgestern soll das gewesen sein: um zwei Uhr siebenundvierzig bemerkte eine Polizeistreife ein langsam fahrendes Fahrzeug neben der Bundesstraße soundso viele Kilometer nördlich der benachbarten Kreisstadt. Die Beamten vermuteten Trunkenheit am Steuer und suchten eine Abfahrt, um die Nebenstraße zu erreichen. Über einen Parkplatz, einen Wirtschaftsweg und den asphaltierten Zufahrtsweg zu einem im Wald gelegenen Umspannwerk erreichten sie schließlich das Fahrzeug. Der Fahrer (dem Vernehmen nach auch Halter des Fahrzeugs, Person X) hatte das Fahrzeug jedoch bereits verlassen. Es war dunkel. Man hörte ein Japsen. Bei näherer Inaugenscheinnahme entdeckten die Polizisten eine Person, die an der Abschleppöse hinten angekettet war.
Die Person war an einem Stachelhalsband hinter dem Fahrzeug her zu marschieren gezwungen worden. Den Beamten bot sich ein grausames Bild. Der Angekettete war schwer verletzt. Überprüfung ergab, dass die auf diese unmenschliche Weise zurück gelegte Strecke 37 km betrug. Das Opfer der Straftat war männlich, etwa vierzig Jahre alt und hatte erhebliche Verletzungen an Händen, Füßen, Knien und am Kopf. Die Verletzungen, vorwiegend Abschürfungen, hatte sich die Person mutmaßlich beim Versuch beigebracht, sich gegen die Zwangsüberführung zu wehren. Der Mann wurde offenbar passagenweise über den Asphalt geschleift, weil er nicht selbst gehen konnte oder sich weigerte.
48 Stunden nach der Entdeckung der Tat durch die Polizeibeamten konnte diese Person also erstmals vernommen werden. Er beschuldigte X, ihn angekettet zu haben, um ihn zwangsweise irgendwohin zurück zu überführen, wo er seine Schulden zu begleichen habe ...
Ich weiß nicht, wie wir vom Tipi, Juris Gummistiefelfüßen und unseren jeweiligen Hunden auf dieses Ereignis kamen, muss was mit dem Barfußthema zu tun haben, denn der arme Kerl hinterm Auto hatte keine Schuhe an. Ich kann mich allerdings gut daran erinnern, dass die Ameisen anfingen, mir in die Beine zu pieken, während ich mir den Mist anhören musste. Man ist einfach zu weich. Keine klare Linie, kein markantes Ich-muss-dann-Tschüss! Wahrscheinlich ist die Frau mit dem charakterlosen schwarzen Hund mit einem Polizisten verheiratet und die Info aus erster Hand. Vom Duktus her war ihr Gerede ein memoriertes Polizeieinsatzprotokoll. Es muss ihr wahnsinnig wichtig sein, Licht in das Kuddelmuddel zu bringen, das in ihrem Kopf mit dem Namen Tipi beschriftet ist.
Der Mann soll die Polizisten an Ort und Stelle nur um eins gebeten haben: die letzten drei Kilometer noch zurück legen zu dürfen, damit er es endlich geschafft hätte. Ein bisschen Licht kommt auch in meine Gedanken, während ich die leere Hundefutterdose vor meinen Augen im Kreis drehe, um die kurze Liste der Inhaltsstoffe zu bewundern: kein Konservierungsstoff, Farbstoff, kein Zucker, keine Zusätze. Das Futter ist besser als alles, was sich Menschen für den Eigenverzehr eindosen. Mister Y, der Mann mit dem Stachelhalsband hinterm Auto, könnte gut Hansens Nachbar sein, fällt mir ein.
Hansen lebt zwei Orte weiter. Auf seiner Straßenseite sind in nur acht Monaten drei brandneue Häuser entstanden. Das vom Ortsrand aus erste gleicht einer hölzernen Schuhschachtel für Riesen. Glasierte Dachziegeln quellen oben scheinbar raus wie Packpapier für Pumps. In Sichtweite erhebt sich der mit Gabionen geschützte und von Solarlichtchen eingerahmte Schwarzwaldbunkertraum eines Schrebergärtners, dessen Passion im Waidwerk liegt, wie man auf einer vor dem Haus angebrachten Tafel abliest, und zwischen beiden ist ein gewaltiger Blechkarton schief im Boden eingegraben. In dem wohnt Hansen.
Hansen ist ein Arschloch, wie alle Bewohner in dem kleinen Ort und in den Nachbarortschaften, und wahrscheinlich überall, wo man sich lange genug aufhält, um intime Details über die Menschen zu erfahren. Aber Hansen hat das Pech, mit gleich drei galaktischen Arschlöchern befreundet zu sein, die ihn selbst wie einen gutmütigen Samariter aussehen lassen. Einer davon dieser Nachbar. Und auf den passt die Beschreibung perfekt. Das ist ein Typ, den ich selbst an einem Stachelhalsband hinterm Auto her nach Hause schleifen würde. Aber, Scheiße, ich fahre nicht gern so langsam, und das noch 37 km weit! Also sowas um die sieben Stunden im ersten Gang. Nö, also, dasnich mein Ding. Die Gefahr ist auch beträchtlich, dass man sich bei solchen Acten die Limo versaut. Lack, Stoßstange, Getriebe. Für diesen Zweck sind Autos einfach nicht gebaut. Geländewagen vielleicht, aber ein Fahrzeug für Gentlemen hat hinten keine Abschleppöse. Damit sone lackierte Tusse am Ende noch einen Pferdeanhänger dranflanscht, um ihren Appaloosa damit zum Deckhengst zu chauffieren oder zum Abdecker? Das fehlte noch.
Die Uhrzeit? Es ist exakt Null Acht Fünfzehn. Ehtan Hunt hat der roten Armee bereits in den Hintern getreten und das Schlafzimmer geentert. Jetzt kann das Gefurze losgehen. Wenn er ne Tussi wäre oder ein schwuler Bettgenosse, hätte ich beide schon erschossen. Aber dem arroganten kleinen Drecksack trägt man freudig die Kacke in einem Plastikbeutel hinterher. Es riecht von ihm her heute nach trockenem Brot. Stimmt was nicht mit dem Dosenfleisch?? Jedenfalls stimmt was nicht mit der Geschichte. Ich komme nur nicht drauf, was das ist. Fünf Mal läuft der Dauerpupser aus dem Schlafzimmer in die Küche und zurück und guckt mich auf dem Weg wie einen Deserteur an, weil ich nicht früh genug schlafen gehe.
Ich hab dann den Fehler gemacht, Hansen anzurufen.
Hansen schuldet mir was. Rein moralisch gesehen eine Achtzehn Meter Jacht. Das ist ungefähr eine Reihenhausvilla oder der Gegenwert zu seiner Schuhschachtel. Ich weiß nicht, ob ich schon erwähnt habe, dass ich kein freundlicher Mensch bin. Eigentlich eher das Gegenteil. Ich finde, wenn sich jemand sein Häuschen im Grünen nicht leisten kann, dann soll er eben im siebten Stock im Grauen wohnen, und wenn er mit Geld nicht umgehen kann, soll er die Finger davon lassen. Vor allem vom dem fremder Leute.
Eigentlich ganz schön clever, die Bänker. Sie bieten uns die ‘Leistung’ an, unser Geld für uns aufzubewahren, lassen sich von uns retten, wenn sie es verspekulieren, streichen die Gewinne ein, wenn nicht. Und für diese Leistung nehmen sie obendrein auch noch Gebühren. Eine sehr anstrengende Tätigkeit. Neben der Referatsleitung ‘Freischaffende Künstler’ im Finanzamt Buxtehude Außenstadt wohl der stressigste Job, den ein ländlicher Broker haben kann. Zumal im Computerzeitalter, wo der Kunde seine Bankgeschäfte auch noch selbst am heimischen PC abwickeln muss. Hansen, habe ich den Eindruck, geht nur noch auf die Arbeit, weil dort der Kaffee besser schmeckt. Und weil seine Frau andernfalls die Krise hätte, die im aktuellen Arrangement der Steuerzahler trägt. Vornehmlich der in Griechenland.
Hansen ist Anlageberater. War. Genau gesagt. Bei einer Bank. Bei der Bank ist er immer noch, aber die Anlagen berät ein anderer. Aus einer viertel Million guten Gründen. Aber trotz des einschlägigen Rufs, den diese Gattung mittlerweile genießt, gibt es doch nur wenige, die Substanziierendes zu den Vorwürfen beizutragen hätten, und ich persönlich halte meine Unterlagen nicht aus Menschenfreundlichkeit zurück. Ich lasse ihn bluten. Den kleinen Drecksack. Nicht seinen Geldbeutel. Geld ist nur Papier. Die Seele aber des Menschen ist ... hm ... wie eine Klobrille. Man sieht glatt hindurch. Es ist praktisch, ein paar davon zu besitzen, aber danach greifen, sie festhalten zu wollen, also, das ist eher was für Sozialarbeiter. Ich hole kein Papier, auch nicht wenn es mit Eurozeichen bedruckt ist, aus dem Klo. Ich vermiete allenfalls die gesamte Toilette.
Hansen hat sich schon oft genug zu entziehen versucht. Genau wie die anderen. In seinem Ort leben praktisch nur Bänker und Leute, die Geld für sich arbeiten lassen. Oder es zumindest so wollen. Wen wundert es, dass dort praktisch nur Burnouter wohnen, und das nicht, weil da die Brandstifter zu Hause wären. Sie würden jede Krankheit erfinden, um nur dem Erwerbsleben zu entkommen. In unserem Ort dagegen ist die Erwerbsstruktur recht übersichtlich gegliedert: fünfzig Prozent Arbeitslose, Rentner, Frührentner und dauerhaft Erwerbsunfähige, fünfundzwanzig Prozent geringfügig beschäftigte Frauen, Parcelfahrer, Saisondachdecker, und der Rest ist auf Montage. Hauptsächlich im Elektrobereich. Man weiß nicht, was sie montieren, möglicherweise das Internet in Somalia. Es gibt also rein vom hormonellen Standpunkt aus gesehen, viel Leerstand um meine Villa herum, den es zu nützen gilt.
Die Seele von Bänkern hängt an ihrem Schlips. Die der Frührentner an Sportschau und Bildzeitung. Da ist in dieser Richtung nichts zu holen. Aber Hansen, sage ich gern, habe ich im Sack. Komplett mit Majo und allem. Er ist ein komischer Vogel. Neun Uhr abends, und er hat noch einen Termin mit mir ausgemacht. Ich treffe ihn in seinem Garten über ein Brötchen gebeugt an. Er ist außer sich vor Verzweiflung und fleht: Lass mich jetzt nicht hängen! Gib dich nicht auf! Die Brandverletzungen sind nicht so tragisch. Es ist nur ein Rückschlag. Reiß dich zusammen, und wir werden Grillmeister. Du darfst nicht sterben. Noch nicht. Es ist zu früh. Im angesprochenen Brötchen klemmt eine Wurst, das Blut quillt aus ihren Arterien. Vielleicht ist es auch Ketchup und die Arterien Krampfadern vom Naturdarm. Selbstverständlich reden wir über Biokost. Naturbelassen wie eine in die Jahre gekommene Hollywooddiva. Der Patient liegt im OP. Der Grill, mit dem Hansen arbeitet, wirkt auf alle Fälle so. Wie der Leichentisch in der Pathologie. Ein Edelstahlding von monströsen Ausmaßen, fahr-, dreh-, kipp- und natürlich beheizbar, darüber ein Lampenschirm, der dem Design nach tatsächlich aus einem Krankenhaus stammt. Das Brötchen ist auch kein Brötchen, sondern P’tit Baguette mit stummem ersten e, und die Wurst ist vom Stamm der Merguez. Angeblich. Angeblich die richtigen, nicht die, die arme Leute essen. Beim Anblick des Blut triefenden Schrumpel-Malheurs bereue ich, den Geheimhunt zu Hause gelassen zu haben. Er hätte am Grill einen geringfügigen Monatslohn verschlingen können, und dann hinterher, weil zu scharf gewürzt, in die Wiese kotzen. Respektive den Schattenrasen. Als ich noch im Tipi lebte, ist mir das auch hin und wieder passiert. Auf offener Flamme zu kochen, ist Sache für den Profi.
Haut Cusine macht mich aggressiv, wenn sie im großen und ganzen verbal stattfindet, also in fremdsprachlicher Ansage, die mit dem Belag der Designerteller kaum korrespondiert. Das Brötchen mit dem stillen e am Anfang und der Tierkreuzungswurst zwischen den Backen antwortet nicht. Dafür Hansens Frau, der das ganze Schauspiel peinlich wird. Scheint, als ginge das nicht erst seit meinem Eintreffen so. Die Gäste der Hansens sind selbst Bänker, Lehrer, Anwälte, Akademiker und/oder sturzbetrunken. Zweiteres eine stramme Leistung so kurz nach neun, aber sie scheinen noch zwischen Merguez und gewöhnlicher Rostbratwurst unterscheiden zu können. Ob das auch für mein und dein gilt, bleibt offen. Bei den Gattinnen. So offen wie die Aus-und Einschnitte der Tangokleidchen, für die keiner der Herren ein Auge hat. Traurige Grundsituation.
Das nächstwichtige Thema hinter Essen und dem edlen Tropfen aus der Auvergne bildet ein Sportereignis, das ich nicht weiter kommentieren will. Es geht darin um die hohe Kunst, mit dem Latschen Lederkugeln in Holzgestänge zu treten, ohne seine Frisur dabei durcheinander zu bringen. Die vulgäre Variante des Golf. Im Zuge der anstehenden Turniere, über die alle Anwesenden besser informiert sind als über die aktuellen Leitzinsen, Bankgebühren und Disposätze, scheint es um die Hansenvilla herum etwas Wirbel gegeben zu haben. Wer sich von wem belästigt fühlte, habe ich noch nicht raus.
Dass die Gäste zu hohem Prozentsatz Bänker sind, erkennt man auch ohne die Gesichter zu kennen, an ihrer betont legeren Kleidung und der Begeisterung für Themen des einfachen Volkes. Wie man eine Vorderhandhalse segelt, Viererketten hält und Merguez à point hingrillt, um sie anschließend in Ketchup zu ersäufen. Hansens Frau hat vor Jahren anlässlich der ewigen Querelen mit der Nachbarschaft unter der Adresse www.verdaechtige-beobachtungen.de eine Internetseite eingerichtet: das Lynchportal für den Amateurstaatsanwalt. Paar Monate, und ihre Datenbank war voll. Die soziale Kontrolle in Entenhausen funktioniert ungebrochen. Einer der Gründe, warum ich bei Hansens bin.
Es gibt Momente, in denen ich mich auf eine verlassene Insel im Pazifik wünsche, tausend Ruderbootstunden vom nächsten Menschen entfernt, siebentausend Kilometer vom nächsten Humanoiden, der Schuhe trägt. Ich schließe die Augen, erhole mich in dieser Vorstellung und sage drei Mal Nein, bis die Gastgeberin aufhört, mir ihre Auvergnejauche unterjubeln zu wollen. Nein, ich bin kein Misanthrop. Ich bin, sagen wir: speziell. Und ich möchte zumindest in diesem erlauchten Kreise, wenn schon nicht vollkommen besinnungslos, dann doch lieber ganz nüchtern bleiben.
Hansen weiß nichts über die nächtlichen Umtriebe seines Nachbarn. Auch nicht, ob er momentan mit akuten Körperverletzungen im Krankenhaus liegt, unter Polizeibeobachtung steht und ums Überleben kämpft. Seine Frau, www.verdaechtige-beobachtungen.de, weiß darüber angeblich genauso wenig. Es ist Zeit, die beiden daran zu erinnern, was ich über sie weiß, ohne es auf www.de veröffentlicht zu haben, und wie viele User die dazwischen liegende Plattform nachts noch frequentieren und dort lesen könnten, was ich weiß oder wüßte, bevor die Webmasterin Gelegenheit hätte, meinen Beitrag vorsorglich zu löschen. Hansen verliert schlagartig seine Lust, der Fremdsprachenwurst noch einmal Leben einzuhauchen, legt mir die Hand auf die Schulter und sagt: komm, wir gehen rein.
Ich bin selbst gerade auf das Gespräch dreier Herren aufmerksam geworden, von denen einer Anwalt, der zweite Bauunternehmer und der dritte Steuerberater zu sein scheint. Sauels, Nauels und Maurer sind ihre Namen. Allein das ist für mich schon Grund genug, noch etwas draußen zu bleiben. Versuch mal einer, diese drei Stammbaumblüten mit den entsprechenden Berufen zu verknüpfen! Wer ist wer? Und das mit Wein im Kopf.
Nauels sagt, Maurer hätte Sauels darüber informiert, dass Sauels Nauels Einkommen im Bau eines Objektes, das Hansens Bank projektiert, nicht steuerfrei verzinsen könne. Wer ist also der Steuerberater, wer der Baulöwe, und wer hat den Bürgermeister geschmiert? Der schlaue Sauerkrautbauer lauert an der Mauer des lauen Sauerkrautbauers, ob er dem lauen Erbauer der schlauen Mauer nicht sein Sauerkraut klauen kann.
Ich hätte meinen Hund Lehmann nennen sollen! Lehmann ist so ein ehrlicher Name. Ich finde, wenn man nicht auf die Arbeit geht sondern in seine Kanzlei, dann sollte man Wittstock, Habermann und Söhne heißen oder Landgraf, Bähr und von Nieselstein. Und nicht irgendwas mit Mau oder Lau. Und dann gibt es noch einen Arzt in der Runde und einen Anwalt für Verkehrsrecht. Da klingelt was. Ich sage ein paar sinnlose Sätze, die das Wort Bürgermeister enthalten, einfach so, weil jeder bei diesem Stichwort gleich an Korruption im Amt denkt, vor allem Hansen, und weil dadurch die Stimmen gedämpft werden der anderen, die akute Probleme mit akuten Projekten haben, und erkundige mich dann beim Verkehrsrechtsexperten, ob es eigentlich nach der Straßenverkehrsordnung zulässig ist, im Schritttempo durch die Gegend zu fahren und einen an der Stoßstange angeketteten Mann hinter sich her zu überführen.
Erst Mal kommt der Kompetenzen-Einwand. Das wäre wohl eher was für den Staatsanwalt oder die Kripo. Ich weiche ihm aus, indem ich erkläre, es hätte ja auch eine Kuh sein können, die ein Bauer vom Acker x zur Wiese y überführt, um sie dort besser grasen lassen zu können. Das überzeugt. In diesem Falle wäre die Straßenverkehrsordnung eindeutig. Man dürfe es nicht. Auch nicht mit einer an der unbeleuchteten Kuh angebrachten Warntafel, auch nicht, wenn die Kuh verkehrssicher angebuden sei, einen Maulkorb trüge und einen sogenannten Nummernschildwiederholer am Schwanz. Die Überlänge des Fahrzeugs sei dabei in erster Linie irrelevant, auch einen Personenbeförderungsschein bräuchte man nicht, solange die vorgeschriebene Anzahl von Fahrgästen, also Führgästen, ich glaube 9, nicht überschritten sei. Und dann sei da noch der Ermessensspielraum der Beamten vor Ort.
Ich denke einen Moment nach. Also, der größte Anteil von dem Quassel kommt ja auf meine Kappe, weil ich nicht aufhören kann, Fallbetrachtungen ganz unjuristisch ins Feld zu führen, die dann von kompetenter Seite ins Fachjuristische übersetzt, eben dämlich klingen. Weil sie eben dämlich sind. Aber trotzdem wuchert in meiner Seele die Fragestellung, ob es in den verschlungenen Dschungeln der StVO-Paragrafen tatsächlich eine Vorschrift gibt, die die zwangsweise Überführung von Schuldnern als Angekettete hinterm Auto regelt. In etwa so, dass der Polizeibeamte vor Ort kraft seines Ermessensspielraums – wenn wenig Verkehr herrscht, abgelegene Straßen benutzt werden, die Beleuchtungsfrage geklärt ist, Zulassung und Führerschein vorhanden sind, das Abschlepp-Fahrzeug TÜV, ausreichend Motorleistung hat, versichert ist und der Inhalt des Verbandkastens stimmt, ob dann der Abgeschleppte mit Warnweste zum Beispiel ... und so weiter und so fort – Kraft des Ermessensspielraums der Polizei, der Beamte dann den Transport einfach mal durchwinken kann. Fahren Sie bitte vorsichtig und denken Sie daran, nichts zu trinken!
Tja, gute Frage. ... und so weiter
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