☁️ geCloud
Ich schreibe einen Roman über das Vergessen. Ein selbstreferentieller Vorgang, denn das Schreiben an sich ist ja Vergessen. Was auf dem Papier steht, ist aus dem Kopf heraus. Man versuche einmal, einen bereits geschriebenen Roman noch einmal zu schreiben, zum Beispiel weil das Manuskript verloren ging. So könnte der Roman in Grundzügen aussehen: ein Schriftsteller schreibt einen Roman, der in der Cloud verloren geht. Dann versucht er sich zu erinnern.
Nun, wo wir schon mal dabei sind, wird das ganze erstaunlich real. Beängstigend geradezu, denn auf wundersame Weise verschwinden immer wieder Textpassagen unauffindbar und sind doch auch irgendwie immer präsent. Jedenfalls soweit, dass eine vage Erinnerung behauptet, zu diesem und jenem hätte schon eine Notiz zumindest vorgelegen. Am Ende dann aber findet sich nichts. Seit heute weiß ich, es gibt einen Namen dafür: Cloud.
Die große Datenwolke saugt alles auf, was irgendwann irgendwo herunter regnen wird, das ist bekannt. Unbekannt ist der Ort, an dem das geschieht, und diffus die Art und Weise. Es könnte der allseits bekannte Schmetterling auf Borneo sein, der unsere Stürme verursacht. Es könnte ein Sack Reis sein, der in China umfällt. Es könnte eine gigantische Festplatte mit der Aufschrift NSA - for your eyes only sein. Die Cloud ist ein gewaltiger Müllhaufen.
Irgendwo in der Cloud existieren gleich zehn Versionen meines Gedächtnisses nebeneinander. Alte wie neue, unvollständig alle, weil sie sich gegenseitig nicht kennen. Und jedesmal, wenn man auf SICHERN klickt, vergisst die große Wolke, dass sie noch anderes gespeichert hatte. Nur wo? Das weiß sie selber nicht. Ich hab dann mal probiert, die Dokumente aus der Cloud heraus wieder auf eine feste Platte zu kopieren - so richtig physikalisch mit Magnet und so. Tja.
Aus der Cloud heraus fragt eine göttliche Stimme, ob ich den Verweis kopieren möchte. Den Verweis? Auf was? Mensch, Alter, den Mailaccount! Dort lagert der ganze Müll. Und wenn man den Fehler macht, dort aufzuräumen (Spamordner: Viagra und Co.), dann ist das Gedächtnis wieder blank wie das eines Neugeborenen. Ist das nicht wundervoll? Man kann jeden Morgen von Neuem beginnen, unvoreingenommen und frei. Und der ganze belastende Mist von gestern ist WEG.
Mein Lieblingsspruch vom alten Adenauer ist ja hinreichend bekannt: Was schert mich mein Geschwätz von gestern? In Wirklichkeit hat der Mann schon damals das Internet erfunden. Zumindest im Entwurf.
Cloud ist was wunderbares. Es ist ein kleiner Tod, eine Art von Sanatorium für schlechte Geschichten. Sie heilen sich selbst, indem sie einfach verschwinden und so - Platz für Neues schaffen. Das dann auch wieder verschwinden wird im großen Zyklus des Lebens. Wie das Leben selbst so ist auch diese Geschichte organisiert. Wohlgemerkt, ich spreche nicht vom Ergebnis, also dem eingans erwähnten Roman, ich spreche von der Arbeitsweise.
Der Roman selbst ist ja bereits vergessen. So gut wie. Dabei kommt am Ende nichts heraus? Aber nein, doch ich war dabei. Großartige Bücher sind allgemeines Eigentum. Daher werden sie geschrieben. Der Autor jedoch tritt hinter sein Werk zurück. Daher ist er für den Prozess des Schreibens eher hinderlich. Das ganze, sagt der Text, der hier zu seinem Autor spricht, kannst du getrost vergessen. Irgendwie klingt das langsam schizophren. Und das hat seinen guten Grund.
Also ehrlich, ganz knapp stehe ich vor der Erfindung der Schreibmaschine. So ein Ding schwebt mir vor, das Papier zeilenweise mit Buchstaben bedruckt, damit Geschichten in lautmalerischer Art verfestigt werden. Auf diese Weise könnte man sie konservieren. Und dann hätte man eine Möglichkeit gefunden, sie vor der Datenwolke zu retten.
Das erste, was ich auf diese Weise verfestigen werde, ist die Erfindung eben jener Maschine, die die Verfestigung von Gedanken möglich macht. Deswegen werde ich sie auch Schreibmaschine nennen. Weil das ganz ohne den Autor funktioniert. Dann gehe ich den Schmetterling in Borneo suchen. Diese Vorhaben, damit ich sie nicht vergesse, gehören notiert. Moment, wo hatte ich nur meine Spickliste?
Ach hier: Besorg dir einen ☂
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