Teufels Sichelschnitt

1940. Deutsche Truppen stürmen durch Benelux, umgehen die Maginot-Linie, überqueren die Maas, riegeln das britische Expeditionsheer von den französischen Truppen ab und nehmen die Kanalhäfen ein. Ein Riesenerfolg aus Sicht des dritten Reichs. Negativ wirkt sich bei dem Coup aus NS-Perspektive einzig die dramatische Fehlentscheidung Hitlers aus, die Truppen im Vormarsch aufzuhalten, um den Nachschub sicher anzubinden. Andernfalls hätte aus heutiger Sicht das britische Expeditionkorps keine Chance zur Flucht gehabt. Churchill wäre wahrscheinlich aus dem Amt gegangen, England hätte sich mit Hitler arrangiert. In diesem Falle hätte möglicherweise schon einige Jahre nach dem Ereignis ein engagierter UFA-Regisseur (oder eine mindestens genauso engagierte Kollegin) die gesamte Angelegenheit NS in einem heroischen Spielfilm auf Zelluloid gebannt, und die Welt hätte ein Idol für die als barbarisch verschriene Rassenpolitik Hitlers. Denn, hm, wie sagt man so schön, irgendwas hat man doch schließlich tun müssen, irgendwas. Um die jüdisch-kommunistische Weltverschwörung aufzu…

Brrrr

In den Köpfen dummer Menschen funktioniert dieser Kurzschluss erstaunlich gut. Der Erfolg gibt ihnen und ihren Dealern des sie motivierenden Gedankenguts recht. Bzw. gab ihnen seinerzeit Unrecht. Aber über Recht oder Unrecht entscheiden eben nicht die moralischen, nüchtern betrachtenden Menschen. Über Recht und Unrecht entscheiden die Architekten der fiktionalen Randkomponente, die wir historische Realität nennen. Also neben Historikern auch (Drehbuch-)Autoren mit ihren jeweiligen Geschichten.

Die Glorifizierung des Unmenschen hat eine lange politische TraditionIn diesen je nach Zeitgeist: Der deutsche Kaiser, der den grauenhaften ersten Krieg im Westen stoppte, nachdem er ihn befohlen hatte - aber immerhin - wird als Dolchstosser angesehen. Zumindest unter den Gesinnungsgenossen der Kriegstreiber, die die Ereignisse um die zweite Invasion nach ganz oben in der Gunst der Masse spülen. Zu dieser Zeit wollen auch die noch nicht so richtig Alliierten über den Rassenwahn in deutschen Lagern nicht umfassend informiert gewesen sein. Oder das Ausmaß nicht gekannt haben. Damit wären wir bei der Effizienz von Geheimdiensten. Sie hätten es in Hitlers persönlichem Wahlkampfprogramm nachlesen können, ganz ungeheim.

Das älteste Gewerbe der Welt: Wahrheit ist eine HureAber auch nicht so richtig publikumswirksam. Zumindest für Hollywoods Illusionsmaschinerie untauglich. Keine Action. Keine Helden, nur Bücherwürmer, die in die Zeitung gucken. Am Ende wird man feststellen, Rückschau oder Voraussicht, hin oder her, dass himmelschreiendes Unrecht einfach himmelschreiendes Unrecht bleibt, egal, wie man es zu bemänteln versucht. Krieg ist Morden und Schlachten, Pogrome sind barbarische Akte von Affenhorden, die ihre jeweilige Andersartigkeit oder Andersgläubigkeit oder Unterschiede im Wirtschaften, von Sprache und Kultur zum Anlass nehmen, bestialische Gewaltperversionen auszuleben. Mehr nicht. Action hin oder her.

Doch wieviel Zeit braucht Geschichte, um die Vorstellungen zu korrigieren, die alles, was war, ins unrechte Licht zu rücken versuchen?

Sichtbarer als das Ereignis ist immer noch dessen Aufarbeitung. Meist die fiktionale. Denn gibt es noch eine andere? Was also tun, wenn offengelegt werden muss, was offenbar war? Brian Moore: HetzjagdBrian Moore schreibt in der Hetzjagd das Versteckspiel eines Kriegsverbrechers und seiner Gönner nach dem Zusammenbruch des Kollaborationsregimes. Was ihm gelingt: allen Beteiligten in ihrer Fallibilität menschlich gerecht zu werden, was letztlich ein grandioses Bild des Individuums zeichnet, und seiner Unfähigkeit, das Phänomen der eigenen Gewaltbereitschaft, Verführbarkeit und des eigenen Nutzdenkens umfassend zu skizzieren. Literatur mit Tiefenwirkung. Auch lange nach dem Krieg.

Richard Harris: GhostMindestens genauso ergreifend der virtuose Richard Harris im Ghost. Wo er die Mechanismen der public-relations Intrigen analysiert, erkennt der Leser seine eigenen Schwächen in jedem der Akteure, die letztlich in toto eine üble human-politische Jauche anrühren. Jedes einzelne Rädchen im Getriebe wirkt geradezu belästigend schuldlos. Die völlige Absenz von Gut und Böse gelingt beiden zwar nicht. Wäre auch wenig realistisch. Dennoch hebt sich die Polarität so weit auf, dass dem Leser der Blick in den Spiegel nicht mit dem Ausweg voreiliger Identifikation mit einem per Rollenzuweisung deklarierten Edlen erspart bleiben kann. Zeitlos beide Geschichten.

Dann dieser Film.

Und Hollywood schafft, was man seit NS-Propagandazeiten in Europa für unmöglich gehalten hätte. Der StoffKathryn Bigelow: Zero Dark Thirty: Männliche Unterwäschemodels prügeln auf einen wehrlosen Gefangenen ein, waterboarden, als sei es eine sportliche Leistung. Die Kamera dokumentiert jede kleine Hässlichkeit. Als Hauptfigur kämpft eine toughe CIA-Lady mit der Hartnäckigkeit einer Clarice Starling vom Schweigen der Lämmer für den Nachweis, dass diese und nur diese Barbarei zielführend zur Ergreifung des schlimmen bösen Fingers Osama Bin Laden sei ...

Und gut, wenn der aufgeklärte Zuschauer nun erwartet, dass der Film am Ende noch die Kurve kriegt und die wahre Sinnlosigkeit der Folterei, von Entführungen und Wassergepansche offenbart, der wird aber sowas von enttäuscht. Denn der Film erzählt exakt - aber auch wirklich exakt ohne ein dummes Klischee auszulassen, die Geschichte, die ein Neonazi im oben beschriebenen Falle zur Rechtfertigung des Rassenwahns hergezaubert hätte. Erfolg ist im wesentlichen die Rechtfertigung. Denn irgendwas musste man doch schließlich …

Einen winzigen Hauch von Hoffnung verströmt im Kino der Moment, in dem der Gefolterte wahllos Daten und Orte von Anschlägen erfindet, um nur irgendwas zu sagen, das die Peiniger in ihren psychotischen Perversionen bremsen könnte. Aber auch diese Szene wird noch nachträglich ideologisierend vergeigt, indem die Clarice Starling so ähnliche Fox-Lady den Vorgesetzten überzeugt, dass nicht Verhinderung von weiteren Anschlägen das Ziel von Folterexessen sein könne und damit nicht so wichtig, was der Gefolterte in seiner Pein schwafelt, sondern vielmehr die Rache am Erzfeind.

Also bekommen wir auch en passent noch gleich das Gegenargument auf den Teller, das die historischen Kritiker widerlegen soll, Folter habe noch nie irgendeine brauchbare Erkenntnis zur Ahndung oder Verhinderung von Straftaten erbracht.

Wiederholen wir zur Sicherheit: NOCH NIE.

Kurzum: Zero Dark Thirty ist ein widerlicher Rechtfertigungsstreifen von Folter, illegalen Kommandounternehmungen zur Liquidierung von Zivilistsen, Frauen und Kindern; eine zynische Orgie der Selbstbeweihräucherung von Kriegsverbrechern und Tätern gegen die Menschlichkeit. Er ist aber auch ein Fanal für die Manipulierbarkeit des Kinogängers. Was nun die ernsthafte Filmkritik mit diesem schrägen Zeugnis humanitären Totalversagens anstellt, treibt einem die Gänsehaut über den Nacken. Sie lobt ihn. Was mir die Frage in den Kopf treibt, wie die Filmkritik mit den Machwerken unserer eigenen diktatorischen Filmproduzenten umgegangen wäre, hätten sie nur im Westen und Osten den nötigen militärischen Erfolg gehabt.

Erschreckende Selbsterkenntnis eines Fikionalisten: Haben damals drei Tage Standbefehl über Rechtmäßigkeit oder Abscheulichkeit eines ganzen Regimes und seiner Taten entschieden?

Die Frage ist natürlich im Nachhinein, wie die hier genannten Sachverhalte objektiv bewertet werden könnten. Liegt denn Kunst und somit Fiktion in Buch, Film und Kino nicht im Auge des Betrachters? Muss ein Regisseur sich in Fragen, die menschlich existenzielle Themen überdecken, nicht einer gewissen Sorgfalt befleissigen? Oder darf er im Rahmen künstlerischer Freiheit seine Geschichten erzählen, wie es ihm gerade beliebt? Rechtfertigen oder verdammen bis hin zu Entmenschlichung? Hauptsache, der Plot stimmt, die Bilder haben ihren Schauwert und die Tonspur ist gut gemacht?

Die Frage ist schnell zu beantworten, wenngleich sie rechtlich, moralisch und sittlich doch recht kompliziert erscheint. Er darf alles erzählen. Und der Zuschauer darf alles ansehen und dabei seine - wenngleich - pornografische Freude empfinden. Alle zusammen müssen sich allerdings, da das ganze öffentlich geschieht und nicht im Separee einer Militaria-Bumsbude auch mit dem Gesichtsverlust arrangieren, den mentalen Absturz ins Mittelalter der Exzesse von Hexenverbrennungen am eigenen Vorbild zu dokumentieren.

Giordano Bruno, um es mal so zu sagen, scheint umsonst gestorben.