Gewalt
Manchmal denke ich, Gewalt sei ein völlig unverständliches Phänomen. Gewalt wirkt dann als ein singuläres Ereignis im Leben von Menschen, die mit ihr nicht gerechnet haben. Wir suchen nach der Störung im Leben oder im Kopf oder in der Bibel des Täters und finden nichts als heiße Luft. Nichts jedenfalls, das uns hinreichend erklärt, warum Dinge geschehen, die wir nicht haben wollen.
Der andere, derjenige, der Gewalt ausübt, allerdings, wird sich darauf berufen, dass er diese lange schon erfahren und Tag für Tag seine Ohnmacht gegenüber ihr empfunden habe. Dass er sie nun lediglich zurück trage. Der ausgemachte Adressat wiederum wird sich als nicht zuständig erklären und die Botschaft nicht annehmen wollen. Er wird, was unerklärlicher ist, dann noch eine Schippe drauf legen und das ganze in die sicheren Ursprungsländer zurück expedieren.
Das Phänomen daran ist, dass jeder Gewalt produziert und das immer. Dass jeder sie als ein charmantes Souvenir aus archaischen Zeiten ansieht, in denen Männer noch Durchsetzungsvermögen und Frauen noch gesunde sexuelle Affinität zu Alphatierchen brauchten. Null Toleranz gegenüber ... Gewalt - las ich einmal. Gleichzeitig klingelte mir der Satz des herbei gerufenen Polizisten im Ohr: wir haben schon schlimmeres gesehen. Was wollen Sie denn, Sie sind ja nicht (ernsthaft) verletzt!
Körperbetont durchs Leben zu gehen, ist ja schon fast Voraussetzung für ein erfolgreiches Berufsleben und eine gleichermaßen erfolgreiche Partnerwahl. Wer nicht mitmacht, überlebt kaum die eigene virtuelle Kindheit am Joystick. Messern, killen, bombardieren, massakrieren, missionieren, auf zum Gegenschlag.
Der Politiker am Rohr nennt es nicht Counterstrike, er denkt bereits jetzt über neue Sicherheitskonzepte nach. Derselbe möglicherweise, der vielleicht vor einigen Jahren noch die virtuelle Gewaltwelt selbst mit allen Mitteln bekämpfen zu wollen vorgab, weil sie zu dem Zeitpunkt gerade aktuell ein Gamer real in Szene gesetzt hatte. Jetzt hängt das Fähnchen anders herum im Wind, aber die Sprüche gleichen sich wie eine Granate der anderen.
Gut, wo kommt das her? Soll man einfach mal Pause machen und auf den Gegengegengegenschlag verzichten, oder sind wir dafür schon zu weit auf dem Exportweg der gemeinsamen Werte? In der Radikalisierung von Böse und der von Gut? Jedenfalls ziehen wir seltsamer Weise in dieser Hinsicht allesamt an einem Strang. Wir produzieren immer mehr von diesem Rohstoff Gewalt. Kaum dass ein Anschlag verraucht ist, muss schon jemand vor das Mikro treten und energische Gegenmassmahmen ankündigen. Da stellt sich die Frage, ob man nicht beginnen sollte, das ganze phänomenologisch zu sehen.
Das Phänomen Gewalt ist nicht in seinen Kausalketten zu finden. Gewalt lässt sich nicht erklären, indem man Ursachen ihrer in Einzelfällen auftretenden Erscheinungen erforscht. Klar, wenn ein Stein vom Dach fällt und einen Menschen erschlägt, ist eine eindeutige Ursache dieses Ereignisses zu finden. Vielleicht ein nachlässiger Dachdecker. Oder ein jüngst erfolgter Vulkanausbruch. Der Streich eines Jungen oder der Nestbauinstinkt von einem großen Tier. Am Ende dieser Denke ist Gewalt nicht mehr als die Folge des Flügelschlags von einem Schmetterling in Birma. Oder Hanoi.
Ein wertfreier Parameter, der sich proportional zu Schwerkraft und Fallhöhe entwickelt. Die Physik der Gewalt. In einem abgeschlossenen Gefäß mit festem Volumen wird der Druck hauptsächlich von der absoluten Temperatur bestimmt. Jedes einzelne mikroskopische Ereignis, das letztlich die thermodynamische Größe Druck auf irgendeinem Flächenanteil bestimmt, ist allerdings statistisch gesehen vollkommen irrelevant. Spielt keine Rolle, ob ein in Luft gelöstes Wassermolekül oder Staubflocken gegen die Gefäßwand prallen, Druck ist im Ganzen gesehen Druck. Mit sehr geringen Schwankungen durch Fluktuation von ganzzahlig sich ereignenden statistischen Prozessen.
Und dieses Phänomen, bevor jetzt jemand kommt und das alles moralisch umzudeuten versucht (sollen wir etwa gar nichts tun?), dieses Phänomen hat en bloc Ursachen, die sich möglicherweise ebenso leicht erkennen lassen wie die gesteigerte Temperatur als Ursache eines gesteigerten Drucks. Der Kochtopf geht in Stücke, wenn man ihn aufs Feuer stellt. Man sollte also mal nach der gesellschaftlichen Temperaturkurve suchen. Und die Frage stellen, welche Aussichten sie uns verheißt.
Und bitte, kommt jetzt nicht mit der Pauschalklatsche Überbevölkerung! Gewalt kam, wenn wir ehrlich sind, immer dann in unserer Menschheitsgeschichte zum Einsatz, wenn wir mit unserer Kreativität und geistig-sittlichen Potenz am Ende waren. Schwert raus und mitten durch den Knoten. Gewalt ist das Eingeständnis des Versagens. Kapitulation vor einer mentalen Herausforderung. Warum sehen wir diese Herausforderung nicht und beschäftigen damit unsere Wissenschaft?
Vielleicht, weil wir Angst davor haben?
Na, Erdovan formuliert es nur einen Tag später so: Dieser Aufstand, diese Bewegung ist wie ein Geschenk Gottes. Und Nizza? Tja, da war man wohl in IS-Kreisen nicht schnell genug mit einem Bekennerschreiben, sodass man bislang davon ausgehen muss, dass der kleinkriminelle gescheiterte Schläger einen Amoklauf hingelegt hat, der sich im Nachhinein nur noch schwer ideologisch nutzen lässt. Das alles wird den Toten und Verletzten GAR NICHT helfen. Aber die Gelegenheit zum Statement vor dem Mikro ist voll umfänglich genutzt.
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