Brexit
Wenn man in unserer gesellschaftlichen Gegenwart nicht schnell genug neue Wörter lernt, in seinen aktiven Sprachschatz übernimmt und damit spielend umzugehen weiß, dann rollt man auf das Abstellgleis.
Wer erinnert sich noch an die unbeholfenen Statements, die in den Neunzigern aus den Mündern ostdeutscher Funktionäre kamen? Technisch gesehen Experten, waren sie sprachliche Monstren, über deren hilflos ins Mikro gepustete (Deitsche Demokratsche Replik) Meinung der mit seinem Werbevokabular geschulte Westi nur schmunzeln konnte.
Nichts beweiskräftigeres kann die CIA aus ihren Arsenalen für die Unlauterkeit eines exotischen Regierungschefs kramen als den Versuch eines Repräsentanten aus sagen wir Angola, in gebrochenem Englisch ein Interview zu stammeln - über Menschenrechte und Bodenschätze zum Beispiel. Ein pakistanischer Atomphysiker, der akzentfrei Harvard-Englisch aus dem Gucci-Anzug plappert, hat schon bessere Karten vor dem öffentlichen Tribunal.
Meine Güte, wer heute noch am Stammtisch was von guter Straßenlage quasselt anstatt die fahrdynamischen Vorteile seiner drive-by-wire-Bodengruppe zu goutieren, könnte auch gleich zugeben, dass er nicht weiß, wer in der EM im Halbfinale steht. Oder dass ihn das ganze einen Sch... interessiert. Sprache entscheidet über Dabeisein oder Außenseiterrollen. So wie das Ethanol über Reinheitsgebot oder nicht.
Das Brexit macht Europa nun komplett zum Außenseiter. Einmal deshalb, weil man als Europäer lernt, dass auf jede kleine Finanzkrise am Balkan eine Schöpfungswelle neuer Worte folgt, die am anderen Ende des Schiffchens Europa Seeleute über Bord spülen wird. Zum anderen, weil man lernen muss, dass auch die Institutionen, die diesen Wortschöpfungen folgen (wie Frontex - auch was mit x) für zivilisierte Staaten - ich möchte mal sagen: gewöhnungsbedürftig sind.
Wir sind, wie im Kennzeichensektor offenbar in der x-Reihe angekommen. Lauter ungewohntes für die Augen, das die Kinder vom Rücksitz her spielerisch erlernen können. Für sie ist Brexit der kleine Bruder von Viertelfinale und damit Hooligan. Für den Alteuropäer ist beides ein trauriger Absturz in die Zukunft der Vergangenheit. Da zeigt sich nämlich, wie viel die Union wert ist und ihre Werte - auch im spielerischen Miteinander.
Brexit ist (wenn man aktuell an den Beginn der Tour de France erinnern will) der Dopingskandal der europäischen Politrundfahrt. Lange totgeschwiegen, dann hat man den einen oder anderen abgewatscht, jetzt sind die Populisten dran, endlich mal zu sagen, was doch mal erlaubt sein muss zu sagen. Die Sportärzte des Politpelotons: ALLE sind gedopt und das ganze Herumgefahre eine Riesenshow. Und das Theater in London eine Luftnummer für die, die sonst nichts mehr im Köcher haben.
Aber wir Restler wissen nun aus verlässlicher Quelle und mit markanten brandneuen Worten, dass unser Schiffchen Europa ein wackeliges Holzfloß ist, das beim ersten Wind in Stücke kracht. Weil auf der einen Seite die Passagiere schon die Takelage fressen und Planken aus dem Boden rupfen, um ihre Grillfeuer zu entzünden, während die anderen noch darüber nachdenken, wie sie die nächsten Abgasnormen austricksen können.
Tja, traurige Erkenntnis: unsere Wertegemeinschaft BESTEHT aus neuen bunten Wörtern, mit denen man sich kosmopolitisch gegenseitig erklärt, wie man Tackliatällä, Köfftä und Anschelika richtig ausspricht. Nicht, um das dann auch zu tun, sondern damit der Zuhörer weiß, dass er dumm ist. Wer A sagt, sagt ARTE, muss gar nichts. Das ist so mit der Sprache. Man kann plappern, was die Kehle hergibt, und anschließend tun, was auch immer. Nur schön formulieren sollte man können.
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