alles gelogen

Alle Kreter lügen, sagt man - auf Kreta. Nicht unbedingt, wenn es um den Diskos von Phaistos geht, denn der ist ganz sicher echt - wäre er nicht echt, bräche die Fremdenverkehrsindustrie Kretas zusammen, so munkelt man außerhalb Kretas. Die Griechen sind überhaupt alle Lügner - historisch gesehen: denn schon Odysseus erfand den Trojaner und log sich anschließend durch das Mittelmeer. Um Homer zu entlasten oder den Lügner, der sich als Homer ausgab.

Nun, die Griechen haben weder die Lüge noch die Literatur erfunden, aber weil eben die ersten Geschichten, die wir so kennen, aus ihrer Welt stammen, wird die Grundannahme durchaus plausibel: sie sind die klassischen Lügner, denn sie sind die klassischen Erzähler. Literatur ist Lüge, da haben wir’s.

Entsprechend beginnt auch ein wundervoller Aufsatz Jochen Meckes über die literarische Lüge bei Platon. Der Verfasser vom ‘Staat‘ schloss die Dichter kategorisch von politischer Betätigung aus, nicht etwa weil sie lögen, sondern weil sie das eben in gewisser Hinsicht nicht täten - oder wenn, dann mit allzu großem Ungeschick. Dichter müssen lügen, denn nur so sind Werte zu etablieren und zu erhalten, die den Staat firmieren. Lögen sie im Dienste der Wahrheit, dann verdürben sie die Jugend.

Aber was ist denn dann die hehre Funktion der Lüge in der Literatur? Da geht desmeist die ganze Chose schon beim Definieren in die Brüche. Lüge sei bei Platon, heißt es, noch nicht unterschieden vom Irrtum, denn die Griechen kennten den Unterschied nicht. ‘Pseudos‘ seien beide. Nun ist mein Griechisch schon ein wenig eingerostet. Nachschlagen bringt allerdings an den Tag, dass der Altgrieche sehr wohl einen breiten Fächer von Worten hatte, mit dem er zwischen dem Unlogischen (a-logos), also Irrtum, über das Abschweifen und Irren (planan), bis hin zur bewussten Lüge (pseudes) differenzieren konnte.

Die historische Hypothek der moralisierenden Auffassung, die es im platonischen Denken nicht gäbe - durch Thomas von Aquin und die Scholasten dem Kant in den Kopf gesetzt, Nietzsche und der Moderne zur tapferen Überwindung - existiert also eigentlich so gesehen nicht.

Was ist denn dann überhaupt die Lüge? In der Literatur? Das zweite bearbeitet Mecke ganz wundervoll, das erste zitiert er lediglich:
1) Jede Lüge basiere auf einer Diskrepanz zwischen Meinung/Gefühl und Äußerung.
2) Diese Diskrepanz werde verdeckt.
3) Sie diene weiterführenden Zwecken, die verborgen blieben.

Der Mathematiker ist jetzt erst mal gründlich enttäuscht. Denn was da an Phänomenalem aufgezählt wird, ist eines ganz sicher nicht, nämlich - wie behauptet - eine Definition. Schon gar keine neutrale. 1) ist ein Zirkelschluss, 2) ist eine Beeigenschaftung, 3) eine Zweckbestimmung.

Gut, formal gesehen, ist die Lüge ein logisches Gebilde. Es geht über die reine Wahr/Unwahr - Dichotomie hinaus, ist also ihrem Wesen nach kein dual-logisches Grundprinzip, sondern ein sprachliches Metakonstrukt, das sich dem wertungslosen Formalismus der Mathematik entzieht. Logisch gesprochen, wenn man so wollte, ist die Lüge die bewußte Behauptung eines falschen Wahrheitsstatus. Der Logiker würde es symbolisch fassen zu: (A und ⏋A = wahr). Was im Kern die Auflösung der Logik bedeutet. Lüge ist die bewußt falsche Anwendung der Logik. Zum Zweck der Täuschung, könnte angefügt werden.

Man hätte es wesentlich leichter, die Funktionalität der Lüge in der Literatur zu untersuchen, würde man dieser Definition folgen, vor allem gelangt man schneller zur funktionalen Unterscheidung zwischen inhaltlicher oder formaler Lüge - dem lügenden Baron und seinen Geschichten auf der einen Seite und dem durch Bruch der Erzählkonvention lügenden Autor. Außerdem wird man leichter den ehrlichen Dichter entlasten, der um der Wahrheit willen lügt.

Diese Extravaganzen untersucht Mecke wirklich virtuos und reist durch die Welten Lukians, Bürgers, Walsers, Pikaros, Münchhausens, Pinocchios, Krulls, Cervantes … um zu zeigen, wie schön wahr der lügen kann, der seine Lügen selbst noch zu inszenieren weiß. Unerwähnt bleiben die vielen, vielen, die ungeschickt Geschichten herlügen, um dem Leser nach dem Schnabel zu erzählen. Wir nennen es Bestseller, Propaganda oder Regierungserklärung.

Ein Bestseller, der sicher in diesem Essay zur Literatur der Lüge und Lüge in der Literatur keine Erwähnung finden wird, wirbt im Klappentext mit dem schmissigen Statement, Irrtum und Lüge seien Kitt und Motor des kulturellen Fortschritts.

Au
Backe!

Nungut. Jochen Mecke ist in seiner Arbeit (Du musst dran glauben) zur Erzählforschung ein großartiger Abriss gelungen, der sich liest wie ein wahrer Krimi.