die Schildkröte
Das goldene Zeitalter der Naturwissenschaft ordnet sich um so illustre Namen wie Einstein, Heisenberg und Schrödinger an. Zumindest in dem Teil der Naturwissenschaften, der sich mit grundsätzlichen Fragen der unbelebten Welt befasst. Schöpfungsmythen und Giftgas gehören zum Rest genauso dazu wie Kernspaltung und Co, die häßlichen Geschwister der Sapientia. Aus dem goldenen Zeitalter der Naturwissenschaft stammen so viele Anekdoten, die uns die wahre Naivität der Forscher vor Augen führen können, aus deren Laboren schließlich auch Atom- und Genbombe kamen. Eine Legende, die zu Nerd-Partys zu gehören scheint wie grüne Oliven in gewisse Alkoholika, ist die von Zenon und seiner Kröte.
Zenons Schildkröte läuft über die Straße und wird von Achill verfolgt, sie ist zunächst weit vorn, dann kürzer vorn, dann immer kürzer vorn und schließlich nur noch vorn. Achill kann sie nie überholen, denn in Zenons Betrachtung kriecht sie Achills Einholversuchen stets mit dem winzigen Vorsprung weg, den sie sich erarbeitet, während Achill den vorherigen Vorsprung aufzuholen versucht. In Wahrheit ist das NIE der Fehler, denn a) ist Achill genauso tot wie seine Kröte und das Rennen somit gelaufen und b) wird das Experiment nur funktionieren, wenn die Schildkröte die Weltzeit vor dem Break-Even unendlich ausdehnen kann.
Und das hätten wir gemerkt, denn auch wir wären Teil des Experimentes und könnten die Schildkröte nicht einholen: immer wenn die Schildkröte sich denke, jetzt gleich ist Achill gleichauf und die ganze Welt sieht zu, sähe die ganze Welt die Kröte um einen winzigen Vorsprung kämpfen. Da die Schildkröte aber nie eingeholt wurde, sehen wir noch heute zu, wie sie über die antike Straße rennt. Die Zeit ist nämlich damals einfach stehen geblieben. Also, genau gesagt, sie ist ausgelatscht, und die Welt glotzt noch gebannt auf Achills Ferse, die nicht vom Boden wegkommt. Wenn das Experiment so lief, wie es sollte. Doch war das Standbild noch gar nicht erfunden. Liegt darin das Dilemma?
Freeze! schreit Zenon und die Nerdparty drückt im einundzwanzigsten Jahrhundert auf die Fernbedienung, was die antike Schildkröte und ihren Achill langsamer, langsamer und schließlich fast still stehen läßt. Bullet-Time bei den Wachowski-Brüdern. Die Kamera fährt einmal im Kreis und um Troja herum, oder wo sonst sich so Schildkröten mit Achillen messen, und filmt, wie die Zeit stehen geblieben ist. Für das goldene Zeitalter der Physik hat das Paradox funktioniert. Der Verstand setzte an, Rassenwahn und Dummheit, Aggression und Barbarei zu überwinden und das wahre Wesen der Welt zu erkennen. Die Zeit gefror - unter anderem im kalten Krieg - und Achill verlor noch im Lauf sein Rüstzeug an die Gewaltherrlichen.
Jetzt haben wir DIE Bombe. Und schwarze Löcher. Aber das eigentlich interessante an dem antiken Paradox ist unangetastet. Nämlich der regelmäßige Ablauf der Zeit. Klar, wenn in der Championsleague die Zeit dilatiert und infinitesimal vor dem entscheidenden Torschuss die Kamerabilder einfrieren, der Ball vor der Torlinie im Raum kleben bleibt und dem Schiri die Luft in der Pfeife gefriert, dann ... ist Zenons Vision wahr (geworden). Wir sind noch kein Stück weiter. Und erzählen uns immer die selben Geschichten. In denen wir nicht vom Fleck kommen. Weil wir nur so weit denken können, wie eine siegesgewisse Schildkröte sieht.
Wolfgang Rößler beschäftigt sich in seinem Wissenschaftsabriss "Eine kleine Nachtphysik" - "Große Ideen und ihre Entdecker" mit eben diesen. Am Anfang auch ausgiebig mit den genannten Anekdoten. Aristoteles, wie könnte es anders sein, ist der Eckpfahl menschlicher Erkundungsgänge am Geröllhang einer langen Geschichte von Fehldeutungen und aufsehen erregender Entdeckungen. Für Aristoteles sei unter anderem die Schildkröten-paradoxie Anlass zu einer tiefen Skepsis gegenüber der Unendlichkeit gewesen. Sehr schnell stellt sich das Fundamentale in der Wissenschaftsgeschichte heraus: die Physik des Aristoteles ist reine Philosophie und als solche immer gern der Spielball der modernen Beweis und Gegenbeweis - Axiomatik.
Was ist Unendlichkeit? Gibt es sie? Solche Fragen serviert ein hochmütig drein blickender moderner Kellner gern in einer konkretisierenden Menüfolge. Elpino und Philotheo fragen sich, ob das Universum unendlich sei. Darauf existiere, heißt es, bis heute keine Antwort. Ein Physiker hat leicht reden, ein Philosoph wäre vorsichtiger gewesen. Er hätte gefragt: Was an dem Universum denn unendlich sei und was unendlich im Universum bedeuten könne. Offensichtlich war der Raum gemeint, nicht die Anzahl der möglichen Spekulationen darüber oder die Anzahl der Punkte, an denen Achill die Schildkröte NICHT überholte.
Der Raum, unendliche Weiten ... sagt voiceover Startrek und beginnt, ihn in Quadranten einzuteilen. Nun, wenn man den Raum auslitern wollte, es stellte sich die Frage, woher all das Wasser nehmen? Was ist denn Raum überhaupt? Raum ist ein vorgestelltes Gebilde, nämlich das, was durch dreidimensionale Grenzflächen eingeschlossen wird. JEDER Raum ist somit endlich. Jeder Raum ist somit auch unendlich, denn die Anzahl der Punkte, die die Grenzflächen umschließen, ist nicht endlich. Endlichkeit eines Raums bedeutet also, dass es ein Maß für Raum gibt, das in Zahlen ausgedrückt, auf das Universum angewandt größer als jeder Grenzwert ist.
Feine Vorstellung. Man nimmt einen Kubikmeter, darum einen Kubikkilometer, darum einen galaktischen Kubikquadranten, darum fünf Hydroquadrathydranten und erhält immer wieder einen Raum, der sich beliebig vergrößern ließe. Also unendlich? Nehmen wir zwei Dimensionen und einen Quadratmeter in Arizona, darum die Area51, darum tausende Quadratmeilen, darum noch mehr und ... erhalten die Erkenntnis, dass Amerika unendlich groß sein muss. Zumindest die Erde. In zwei Dimensionen. Es sei denn, wir stießen auf unsere Grenzen bei dem Vorgang. Oder auf die dritte Dimension. Denn in der kann man Flächen so krümmen, dass sie in sich selbst überführt werden. Das Universum könnte zum Beispiel solch eine Figur sein. Ende der Spekulation.
Trotzdem mal weiter. Nehmen wir einen großen, schwarzen Raum. Auf der einen Seite ist ein Loch drin, da kommt der Dampf 'erein. Auf datt andere Loch kommen wir später. Das steht auch alles in de Böscher. Aristoteles und so. Wenn ein Maß für Raum gesucht wird, geht das nur, indem man den Raum teilt und die Größe bestimmt. Danach verfährt man mit dem Rest genauso. Es ist etwa das selbe Verfahren, mit dem man den Inhalt von einem Kofferraum bestimmt. Erste Erkenntnis: Jeder so abgetrennte Raum wird endlich groß sein. Unendlichkeit kann also nur vorliegen, wenn unendlich viele solcher endlichen Räume zusammengefügt werden. Da nun stellt sich die Frage, was denn den Raum überhaupt ausmacht außer seinen Grenzen. Antwort: nichts. Die Dichte nämlich von Raum wird in dieser Betrachtung außer Acht gelassen. Weil nämlich Raum kein physikalisches Phänomen als mehr eine Kategorie der menschlichen Vorstellung ist.
Wir stellen uns Raum als das vor, was in einem Volumen eingesperrt ist, in einem Gefäß. Und die Frage lautet: Wie viele wie große Gefäße sind vorhanden. Doug Adams wird so auf die 42 kommen. Insgesamt. Tutto Completo. Frage zur späten Stunde: wie viele sind außerhalb vom galaktischen Anhalter denkbar? Ohne dass sie sich überschneiden? Mit Raumkrümmung beliebig viele. Ohne Raumkrümmung beliebig viele. Und das warum? Weil es sich nicht um ein beobachtbares Phänomen handelt sondern eben um eine reine Vorstellung. So wie es schwarze Schimmel gibt. Und eckige Kugeln. Kugeln sind sogar unendlich viel eckiger als Kuben, wie sich leicht beweisen läßt. Wenn ich Raum annehme, dann existiert er, denn ich kann seine Grenzen benennen. Ohne Grenzen kein Raum.
Zweidimensional: was liegt zwischen Arizona und Utah? Antwort: eine Grenze. Und wie ist der Name des Bundeslandes dazwischen? Nennen wir den Staat Border. Border ist ein zweidimensionaler Raum. Er trägt der Unendlichkeit der Vereinigten Staaten Rechnung. Border hat Null Einwohner, Null Quadratmeter Fläche, kein Steueraufkommen, aber ziemlich viel Zaun. Weltweit gesehen. Ohne Border wären Arizona und Utah unendlich. Und doch existiert der Staat nicht. Paradox? Nö. Denn wir reden über Vorstellungen, und die Vorstellung, dass ein Raum unendlich weit hinaus reicht, ist paradox, weil Raum eben das in allen Dimensionen Umgrenzte ist. Der schwarze Schimmel beißt sich selbst in den Schweif, wenn man ihn galoppieren läßt. Oder einfacher ausgedrückt: unendliche RÄUME gibt es nicht. Möglicherweise unendlich viele. Möglicherweise unendlich viele davon schon in meiner linken Hosentasche. Was hinter dem letzten schwarzen Loch beginnt, ist nichts als ein gedankliches Frakasso. Aber sicher kein physikalischer Raum. Nämlich das, wo man einen Kühlschrank hinstellen kann oder Atommüll entsorgen.
Schwer vorstellbar? Aber leider real. Wir reden nicht über die Unendlichkeit des Universums, wenn wir das tun, wir reden über uns selbst und unsere drolligen Vorstellungswelten. Und die sind seit Aristoteles so begrenzt wie der Vorsprung der Schildkröte. Wohin Achills Verstand kommt, die Raumschildkröte war schon da. Also ist alles unendlich. Oder Achill unendlich langsam. Oder sein Verstand von begrenzter Reichweite. Man kann sich eins aussuchen. Das Ende des Raums allerdings wird Achill niemals erreichen. Weil er in Wahrheit schon da gewesen ist, bevor er überhaupt anfing zu laufen. Also ist die Anekdote doch nicht ganz richtig erzählt.
Achill sollte, bevor er zu laufen begann, die Schildkröte vom Boden aufheben und sie soweit werfen, wie er kann. Dann rennt er dorthin, um zu überprüfen, ob er unendlich weit werfen kann. Käme er dort an, wo die Schildkröte wäre, würfe er sie noch weiter hinaus, um dort wieder hin zu laufen und sich von seinem Erfolg zu überzeugen. Die arme Schildkröte hätte allerdings eine Hoffnung, weil Achills Wurfkraft allmählich nachließe, könne sie damit rechnen, dass ihre Flüge kürzer und kürzer würden und schließlich mit dem Tod des Helden ein Ende hätten. Dort dann wäre das Ende des Achillschen Universums. Oder das Meer. So etwa litert man ein Paradox aus. Wie das Meer. In Gedanken.
Schildkröten sind übrigens putzige Tierchen. In Griechenland krabbeln sie einem schon mal sonstwohin ...
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