behüte dich vor dem Menschen
Einen Menschen zugrunde zu richten, ist einfach. Man behandelt ihn so, als wäre er nicht da. Es gehören allerdings mehrere dazu, um dieses Ziel zu erreichen, ein soziales Gefüge.
Kindergeburtstag. Das Experiment läuft so: Alle Kinder bekommen einen bunten Hut, nur Anton nicht. Wenn es Kuchen gibt, bekommt jeder, der einen Hut aufhat, ein Stück Torte. Jeder darf später seinen Hut mit Süßigkeiten füllen, in jedem Hut ist ein kleines Zettelchen für die Schnitzeljagd versteckt, jeder Hut wird zu jedem Spiel gebraucht. Und es ist genau einer zu wenig da.
So ist das Leben. Auch das ist eine Lernaufgabe. Reise nach Jerusalem funktioniert ähnlich. Wenn jemand in dem Kindergeburtstagsspiel böse wird – zum Beispiel jemand anderem den Hut wegnimmt – dann wird er nach Hause geschickt und die Eltern des Bösewichtes darüber informiert, was der Unhold getan hat. Die Anzahl der Kindergeburtstage, die das Kind überlebt, ist dann eine gute Maßzahl für die Leidenskraft des Probanden.
Sagen wir, Anton schafft ne gute vier. Siggi ist schon bei zwei am Ende. Anna heult nach drei Minuten. Wer beweist hier Nervenstärke? Die Geburtstagskinder, der Experimentator, der Leser?
Verrückt zu werden, ist das Privileg Erwachsener. Sie sind ja schon vernünftig. Umgekehrt wird ein Kind vielleicht meinen, es wäre NOCH vernünftig, und damit möglicherweise sogar richtiger liegen. Kinder werden nicht verrückt, sie werden neurotisch. Neurosen allerdings sind verrückt. Wenn man verrückt wird, läuft das ähnlich wie oben beschrieben. Die Sprache ist auch in dieser Hinsicht gar nicht so dumm. Sie spricht nicht von Auffälligkeiten oder lateinisch-griechischen Hypologismen, sie redet Tacheles: Man ist/wird ver-rückt. Versch(r)oben. In die Ecke gestellt.
Menschen, die zu viel Seewasser trinken, werden zum Beispiel verrückt. Verrückt in eine andere Welt, in der es möglicherweise keinen Durst mehr gibt. Das Verrücken selbst ist der Vorgang, den man mit Skepsis und Erschrecken beobachtet. Je länger der Vorgang des Verrückens andauert, desto verrückter wird der Proband. Sprachlich eigentlich banal. Anna ist weniger verrückt als Siggi und Anton, denn sie weicht dem Leidensdruck schneller aus. Jetzt zeigt sich, wie nervenstark die Umgebung ist. Wird sie das weinende Kind ignorieren? Und somit das Experiment erfolgreich fortsetzen?
Das Karussell aus Hysterie, Neurose und Psychose dreht sich letztlich um die Frage, wie lange man ausgegrenzt überleben kann. Naja, und wenn man die Sache relativ sieht, dann grenzt ein Zaun zu zwei Seiten gleichzeitig aus. Und die Frage, wer als erster hysterisch wird, paranoid, neurotisch oder gar schlimmeres, hängt möglicherweise nur von der Anzahl und mentalen Beschaffenheit derer ab, die auf der gleichen Seite sind. Nämlich auf der jeweils anderen.
Man ist nicht behindert, man wird behindert – ein Spruch, der die Erklärungskompetenz der Sprache sehr schön an anderer Stelle zum Ausdruck bringt. Hier ist es auch so. Ein Zaun ist phänomenologisch gesehen ein Spiegel, ein Reflektor. Die Ausgegrenzten haben Eigenschaften, die die Eingegrenzten nicht wollen. Wenn diese Eigenschaften nun aber nicht eigen sind, sondern Hüte, also affektiert, dann – und das ist nun mal so – symbolisieren Zäune nichts anderes als Ängste vor dem, was die anderen -draußen- zu er-tragen haben. Und das möglichst alleine, denn wir wollen es nicht mit ihnen er-tragen.
Tragisch, aber das ist nun vom Wortstamm her ganz anders entlehnt, ist also die Grundsituation immer dann, wenn der, der den falschen Hut aufhat, an seinem Hut auch nicht viel ändern kann. Und der Hut über sein Schicksal entscheidet. Stigma: Angeheftetes. Natürlich griechisch. Denn die Griechen hatten bereits so viel Erfahrung im sozialen Bereich, dass sie die Demokratie toterfanden. Tragisch ist von ihnen und ein vielfach missbrauchtes Wort. Die Tragödie hat eindeutige Wurzeln im griechischen tragos (Bock) und odos (Weg). Man treibt das Böse aus dem sozialen Gefüge (seinem Dorf zum Beispiel), indem man es einem Bock auf den Rücken legt und diesen aus dem Dorf peitscht. Das körperlose Übel ist dem Leiblichen affektiert (angeheftet) und damit ein Gegner willkürlich gefunden. Nun kann das Unstoffliche durch seine Inkarnation gehandlet werden.
Wenn ich ein Übel bekämpfen will, nutzt es nichts, es zu ignorieren. Ich muss es einem Menschen aufladen, den ich dann ignorieren kann. Dadurch verschaffe ich mir die Illusion, das Übel beseitigt zu haben. Denn der Mensch verreckt mit 'seiner' Krankheit. Genau gesagt, nimmt er meine Krankheit mit, damit ich sie bei mir selbst ignorieren kann. Funktioniert solange, wie es mindestens zwei Menschen gibt. Stacheldraht und bunte Hüte. Kindergeburtstage, Demokratie … sagen wir ruhig, das Experiment adelt den Menschen. Denn es funktioniert überall.
Sogar hier
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