Der Kunde

Der Kunde ist eine Frau. Selten auch ein Mann oder ein Kind. Er ist vergesslich. Er vergisst Einkaufswagen auf dem Parkplatz, den Kassenbon beim Umtausch, und er kann sich nicht merken, wo Salz, Hefe, Olivenöl, Blätterteig und Kräuterbutter stehen. Dafür ist er in der Regel gründlich informiert über die laufenden Sonderangebote. Er ist zudem Frühaufsteher. Der früher-Vogel-frisst-den-Wurm-Kunde ist sozusagen beruflicher Frühaufsteher. Nach persönlicher Beobachtung geht er in Badelatschen ins Bett und kommt quasi im Sportdress zum Fitnesstraining am Wühltisch wieder heraus. Er ist immer absolut pünktlich und verlässlich. Drei Minuten vor Öffnung des Ladens steht er eine Armlänge entfernt vor der Eingangstür und trägt als Beweismittel den gefalteten Werbeprospekt in der Hand. Er ist einer der selteneren männlichen Fälle, auch gleichzeitig der Kundenkönig oder Königskunde, von dem alle Welt spricht, denn er ist für sein Geld selbstbewußt, hat in Detailfragen alle Zeit der Welt, muss aber mit seinem Sonderangebot unterm Arm (vorwiegend motorbetriebene Geräte zur Pflege von Zäunen, Fahrzeugen, Einfahrten und weitläufigen Grundstücken) innerhalb von durchschnittlichen zwölf Minuten durch den Laden und die Kasse sein. Er ist serpentophob, wechselt nervös die Kassenschlange, wenn links zwei, rechts ein Konkurrenzkunde wartet, entscheidet er nach Zahlungsmethode (nie hinter EC-Kunden stellen). Dieser Kunde ist schlau aber nicht intelligent, verfügt über das Monatseinkommen eines Frührentners und hat gegen neun einen wichtigen Arzttermin. Er ist Fußballfan, Grillmeister und Sparfuchs in einem, was ihn für Sonderangebote anfällig macht, die per Aktion geteasert werden: eine Grillbürste aus Edelstahl in WM-Optik im Paketpreis mit einem Partyfässchen Markenbier plus Zwölferpack Patriotenwurst zum Komplettpreis incl. Sonderauslosung Südseerundreise für Zwei. Er hat Verwendung für exotische Werkzeuge, deren multifunktionale Einsatzbereiche (Leuchtdiodenendoskop) schlimmen Abusus vermuten lassen. Der Kunde ist verheiratet mit der Perle, die selten vor neun, an Pumps- und Legginstagen kurz nach sieben busweise den Laden stürmt, um sich neu einzukleiden, vorzugsweise bonbonfarben, strapazierfähig (strech, comfy, wohlfühl) und sich schämt, nach einer 'passenden' Größe zu fragen. Der früher-Vogel-frisst-den-Wurm-Kunde ist eine Fatamorgana, die den echten (Ich soll mal nach Gartenstühlen fragen) Kunden aus der Frühstückspause grundsätzlich um seine Schnäppchen bringt und damit auch Angstauslöser (Nur solange der Vorrat reicht) im Spätkundensektor ist. Er ist der Grund für Hinweistafeln der Art: Abgabe in haushaltsüblichen Mengen. Und er beherrscht die Zinseszinsrechnung, aus '4 kaufen - 3 bezahlen' 40 kaufen 20 umsonst hochzurechnen. Und dann nach einer Runde über den Parkplatz mit 39 (defekter Karton) wieder zurück zu kehren, um sein gutes Geld zurück zu verlangen. In Bar. Denn nur Bares ist Wahres. Sprüche klopft er wie kein zweiter. Das lernt man beim Arzt. Im Wartezimmer. Der Mann ist schon weg, wenn die Frau mit Kind im Einkaufswagen erscheint. Das Kind schaut einen mit Riesenaugen an, und eine Frage scheint ihm auf den Lippen zu brennen: 'Mamma, wer ist der Mann da? Der mit den Pappkartons!?' Der Prämiumkunde Frau-mit-Kind ist die Erholungsversion. Er lässt an die fünfzig Euro im Laden, kennt sich aus und gibt kein Geld für Blödsinn aus. Er ist eben eine Frau. Er verteilt nur schon mal Süssigkeiten links und rechts vom Förderband, die der Jungkunde heimlich in den Wagen befördert hat, und baut auf diese Weise Nester. Ab und zu lässt dieser Kunde auf dem Parkplatz eine Flasche fallen. Der ohne-Kind-Frau-Kunde mit übersichtlichem Einkaufswagen hat da, wo der Erholungskunde ein Kind sitzen hat, die Frauenzeitschrift gut sichtbar mit der Headline 'Ich bin wichtig' und 'zwanzig Gründe, Männer zu hassen' oder 'die sieben Todsünden der Yogadiät' (Joghurt, nicht Yoga!) zu liegen und nutzt den Wagen als Hindernismobil. Er stellt ihn grundsätzlich in der Mitte der meistbenutzten Gänge auf, blockiert vornehmlich Hauptschlagadern oder rammt ihn (schnippisch 'rechts-vor-links' flötend, wenn von links kommend) Personal oder unbewaffneten Konkurrenzkunden in den Leib, zieht dann ostentativ zurück und fordert, ohne den Weg frei zu geben, durch das Signal zur Vorbeifahrt Revanche. Für was auch immer. Er entdeckt immer, wenn jemand mit voller Last durch ihn behindert wird, das Kleingedruckte auf einer Biowaffelnpackung oder die Gemeinsamkeiten mit einer ewig nicht gesehenen Nachbarin aus dem Creative Writing Course in Ibiza vor drei Jahren. 'Gehen unsere Kinder wirklich auf die selbe Schule?'. Der Frustkäufer rennt vom Parkplatz kommend gegen die Glastür, zuckt zurück, greift schon im Flug nach der Flasche im Spiriuosenregal und ist indem bereits mit dem linken Fuß durch die Kassenschlucht, während die rechte noch das abgezählte Geld (Kassenbon brauche ich nicht) neben den Tisch legt, wo es dann zu Boden fällt, was selten zu tragischen Szenen führt, wenn der Kunde mit der Stirn irgendwo andozt, während seine Seele bereits draußen und betrunken ist. Der Rucksackkunde ist unter sechzehn und überlegt in seinen sieben Minuten Spießrutenlauf durch den Laden für den Smoothie, der ganz hinten in der Ecke steht, wie er ein Alter von achtzehn vortäuschen und Tabak ('nur für die Schischa') kaufen kann. Dann kommt über Mittag der Geisterkunde. Den sieht man nicht, er nimmt sich selbst nicht wahr, er ist in einem Hungerloch und schwebt seiner eigenen Fleischwerdung entgegen, nur von einer Packung mit drei trockenen Brötchen drin am Boden gehalten. Wie ein Formel-1-Rennwagen mit Getriebeschaden. Zu wenig Grip. Ein Kunde, dem das absolut nicht passieren kann, ist der großkalibrige Schwerstkunde. Er ist gesundheitsbedingt übergewichtig und schleppt sich mühselig durch den Laden, um alles das zusammen zu suchen, was ballaststoffarm (also gewichtigsreduzierend) ist, und dabei große Warenblasen auf dem Korbgitter des ächzenden Mobils zu erzeugen, über die er selbst nur schwer hinweg sehen kann. Ganz am Ende des Einkaufs sorgt er sich dann um Platz für die Getränke. Der Kirschensortierer ist um die fünfzig, weiblich, verheiratet in zweiter Ehe und Lehrer, nimmt aus jedem Karton drei Kirschen und stellt die anderen links und rechts auf den Boden. Er spult fünfzehn Plastikbeutel von der Rolle, bis ein jungfräulicher erscheint, der noch nicht verknittert ist und garantiert von niemandem sonst berührt wurde, was auch die Gutachtertätigkeit in den Steinfrüchten erklärt. In diesem reinen Beutel verpackt dieser Kunde sein Pfund Früchte, stellt sie dann achtlos zur Seite, um gleiches mit gelben Bio-Kiwi und Erdbeeren zu tun, vergißt Kirschen und Erdbeeren und entscheidet sich an der Kasse, auch die Kiwi auf dem Holzkohlestapel zurück zu lassen, weil es schon nach drei ist und um vier ist das Obst beim Vollsortimenter nicht mehr frisch. Der Umtauschkunde hatt gerrade hier in der Lade dreihundert Fandpflasche in der Automat gegebe und kohmt kein Bohn heraus. Gesundes Misstrauen wächst im freundschaftlichen Miteinander der Kulturen. Der Parkplatzkunde versucht sich zwischendurch an den Flachmännern mit Bonekamp, fällt bei seinem Schluck rückwärts auf den Arsch und droht, den Betreiber des Ladens zu verklagen, weil da irgendeine klebrige Substanz auf dem Boden ist, direkt unter dem Regal mit Jägermeister. Der vergesslich-Kunde läuft indes schnell mal von der Kasse weg (gehen Sie nur vor, ich muss noch mal ...) ins Käseregal, denn eine Kundentoilette gibt es nicht - Hygienegründe - und rennt wie ein Hamster auf der Suche nach Creme Fraîche zehn Mal dran vorbei. Um auf dem Rückweg (lange Gesichter an der Kasse) zu entdecken, dass das Datum abgelaufen ist oder der Aludeckel aufgerissen ... oder ein Döschen Dessert mit Schokopudding. Es ist Zeit für den Schnell-noch-nach-Feierabend-Kunde. Der ist fertig. Mit den Nerven, mit dem Tag, mit der Welt, in Gedanken an das Zurückliegende, geht er in Trance die Gänge durch und denkt mit Pein an die Lieben, deren Vorliebe für Tiefkühlpizza einer bestimmten Sorte gepaart ist mit Abscheu vor der anderen, die direkt daneben liegt. Doch welche war welche? Und immer noch schleudert der Archäologe unter den Grillfleischkunden (robuste Mittvierzigerin) ein Holznackensteak ums andere durch die Kühltruhe, weil keines dabei ist, auch ganz unten nicht, das erst morgen verpackt wurde. Und morgen ist wieder ein Tag ...