Perimetrie der Fiktion

Als Gesichtsfeld des Menschen bezeichnet man im allgemeinen die Umgebung im Außenraum, die der Mensch visuell erfasst, also sieht (auch unscharfe Bereiche in der Randzone), ohne die Lage des Auges oder des Kopfes verändern zu müssen. Wenn ich ruhig sitze und geradeaus sehe, reicht mein binokulares Gesichtsfeld, also das beider Augen zusammen, etwa 180° horizontal von links nach rechts, 60° nach oben und 70° nach unten. Das bedeutet in etwa, man kann das Gesichtsfeld vollständig abdecken, indem man ein Segment aus der Schale einer Pampelmuse schneidet, das sie horizontal halbiert, vertikal drittelt - und sich das Segment anschließend vor die Augen hält. Dunkel.

Experiment: Ich nehme diese Pampelmuse (zur Vermeidung von Plastikmüll, es ginge ja auch ein Basketball), schneide von unten her mittig bis zur Hälfte hinein, betrachte nun den Schnitt von der Seite her. Er sieht aus wie der Zeiger einer Uhr, die auf dem Zifferblatt Sechs anzeigt. Bei Zehn setze ich das Messer noch einmal an und schneide noch einmal halb durch. Nun zerfällt die Pampelmuse in zwei Teile, von denen ein Segment ein Drittel und das andere zwei Drittel der Frucht ausmacht. Die kleinere Schale deckt mein Gesichtsfeld ab.

Was ist mit der größeren? Spekulation

Der Mensch ist visuell organisiert. Das hat er mit vielen Tieren gemeinsam. Der Sehnerv ist im allgemeinen die schnellste, komfortabelste und sicherste Informationsleitung aus dem Außenraum. Deshalb auch das Gesichtsfeld. Denn der Sehnerv muss seinem Wesen nach kurz sein, die Augen sozusagen, andersherum betrachtet: die unmittelbare Erweiterung des Gehirns.

Da dies so ist, müssen die Augen schon aus geometrischen Gründen am Kopf angebracht sein und aus Gründen der effizienten Informationsverarbeitung dürfen es nicht zu viele sein, und sie dürfen nicht zu weit verteilt auf dem Tier werden, weil die Reizverarbeitung dann scheitern würde. Somit spart sich die Natur die zwei Drittel beim Menschen aus, die sein eigener Körper im allgemeinen verdeckt.

Das Gesichtsfeld von Fröschen und Fliegen ist mit 300° bzw. 330° schon erheblich besser, allerdings sind die kleinen Gehirne aller Wahrscheinlichkeit nach mit komplexerer visueller Verarbeitung überfordert. Sie nehmen hauptsächlich Freund/Feind, Beute/Niete, Tag/Nacht - Schemen wahr. Unwahrscheinlich, dass ein Frosch die Mimik einer Prinzessin entschlüsseln kann.

Aber auch, wenn das Gesichtsfeld groß und größer wird, allumspannend wie das Internet, Drohnen am Himmel und googles Satellitenblick, es bleibt immer dieser unbehagliche Rest, 2/3 Pampelmuse. Was ist dort?

Die Fiktion


... denn alles, was nicht sichtbar ist in unserer Wahrnehmung (so ist unsere moderne Welt konstruiert), wird rekursiv aus dem Sichtbaren erschlossen. Wir denken uns die fehlenden zwei Drittel zu unserem optischen Eindruck hinzu. Unsere Welt besteht zu zwei Dritteln aus Fiktion. Da hinten könnte tatsächlich alles sein. Wir wissen es nicht (Wissen im Wortstamm Sehen).

Gut, und wenn ich meine fehlenden Drittel dann mal sehe (also im Spiegel beispielsweise - was ja auch schon ein logischer Schluss der eigenen Wahrnehmung ist), dann denke ich im allgemeinen: das bin ich gar nicht. Auch schon mal erlebt? Wem gehört dieses Gesicht? ... eine durchaus berechtigte Frage am Morgen. Aber auch sonst wird solches sicher schon mal durch Köpfe geistern, wenn wir zum Beispiel unsere eigene Stimme durch eine Rückkopplung am Telefon hören, ein altes Foto von uns im Schrank finden oder von einem Polizisten gefragt werden, wer da am Steuer des Wagens sitzt, der mit 180 in der Ortschaft geblitzt worden ist.

Plato malte sein Höhlengleichnis. Wahrnehmungstheoretisch ist es immer noch up to date. Gefesselte sitzen in einer Höhle und betrachten die Schatten an der Wand. Die Schatten fallen vom Eingang her ein und suggerieren einen indirekten Blick auf das, was draußen vor sich geht. Tatsächlich betrachtet der Mensch so eine Projektion einer Projektion von Projektionen. Das Gesichtsfeld ist sehr stark eingeschränkt, das Ergebnis eine Kunstwelt, in der Menschen hilflos ihren Zerrbildern ausgeliefert sind.

Wir könnten das Bild modernisieren. Ein Reinraum, in dem mit aggressiven Virenstämmen experimentiert wird, wäre die Welt. Die Experimentatoren stecken in Gummianzügen, deren vordere Hälfte mit der Wand verklebt ist und deren hintere fehlt. Morgens essen sie ihr Butterbrot, trinken Kaffee, und dann stecken sie ihre Hände in die Wand und das Gesicht in die Aussparung und erscheinen auf der anderen Seite (in der Welt) als angeschraubte Gummiwesen.

Sagen wir, es gäbe Spiegel im Reinraum, Experimentatoren stünden sich gegenüber und sähen sich nur während dieser Arbeit, oder geheimnisvolle Kreaturen im Reinraum schilderten ihnen aus ihrer Sicht, wer die Experimentatoren sind. Sagen wir, sie gingen draußen praktisch nur schlafen. Dann nähmen sich diese Experimentatoren wahrscheinlich im Laufe der Zeit selbst nur noch als diese halben Gummimenschen wahr, die den ganzen Rest ihrer Wesenhaftigkeit vergessen hätten. Im Schlaf (außerhalb der Arbeit) glaubten sie, zu träumen und somit nicht real zu sein. Zeugnisse von dort würden nicht aufgezeichnet. Kaffee und Butterbrot blieben schließlich draußen - im Irrealen.

Denken wir an die Autobahn und die Fahrer, die sich als ihr Auto empfinden. Denken wir an die Boutiquen und die Käuferinnen, die sich als ihre Kleidungsstücke empfinden. Denken wir an unser Berufsleben und die Menschen, die sich als Funktion empfinden. Ich BIN Polizist, ich BIN Lehrer, ich BIN Maurer. Zuhause schlafe ich. Ich sehe dort fern und nehme ein gutes Buch zur Hand. Aber das alles ist Fiktion, denn es zahlt sich nicht aus. Der Schlaf ist KEINE WIRKLICHKEIT!!

Die angeschraubten Gummimenschen begännen mit der Zeit, sich farbenfroh anzumalen. Denn sie dächten, sie wären aus Gummi. Sie wollen besonders schöne, gut funktionierende und dichte Gummimenschen sein, und sie lächelten milde, wenn jemand von ihnen sagte, er müsse mal zum Klo. Oder mal sonstwie träumen gehen. Oder einen Kaffee trinken.

2/3 sind eine Menge, wenn man die Hälfte der Gummimenschen als Maßstab nimmt. 2/3 von dem, was wir für real halten, ist eine gedankliche Rekonstruktion. Ist es wirklich so, dass sich unser Gesichtsfeld dauernd erweitert? Dass unser Wissen durch fortwährende Verdopplung nahezu explodiert? Oder sind wir nur dabei, zu vergessen, dass wir nicht aus Gummi sind?

Was ist, wenn wir schlafen? Was, wenn wir tot sind? Ist der Tod zwei Mal so umfangreich wie das Leben oder ein anderer Reinraum? Ist ein halbes, an der Wand angeschraubtes Gummimännchen tot, wenn der Experimentator mal für kleine Jungs raus ist? Oder schläft es nur? Wer sind wir? Wirklich?

2/3 Fiktion ...