Die Zukunft ist eine Zwiebel
Wie entsteht eigentlich aus dem Eindruck des Auges ein Bild? Lassen wir mal den biophysischen Teil der Angelegenheit aus, Stäbchen und Zapfen, die gereizt Neuronen anregen und die Optik der Brennpunkte, die sich im Laufe der Zeit durch Veränderung des Glaskörpers im Auge von der Netzhaut davor oder dahinter verschieben, was zu Kurzsichtigkeit führt oder Weitsichtigkeit, den Prozeß des Übergangs von Licht in Materie - all diese Dinge könnte man auch mit einer Kamera Obscura simulieren. Die sind mir momentan nicht wirklich wichtig. Die Frage ist, wie bildet das Auge Ideen ab?
Auch in dieser Richtung gibt es wieder Abbildungstheorien, die mir zu komplex und unverständlich sind. Beispielsweise könnte das Auge spektral sehen oder das Bild in Fourieranalyse aufspalten, es gäbe Dutzende mathematischer Prozesse, von denen mindestens einer darauf hinaus läuft, bewegliche von unbeweglichen Bildelementen zu unterscheiden, regelmäßige Objekte wie Quadrate, Dreiecke, Kreise und Linien zu filtern. Dann die Augensuche. Feinde erkennt man ja an Augen, also äquidistanten Punkten, deren Parallaxe dem Betrachter folgt. Alle diese Ansätze fallen schon in den auswertenden Teil des Wahrnehmungsprozesses.
Dazwischen geschieht etwas seltsames, ein Vorgang, über den der Seher stillschweigend nicht informiert worden ist. Die Konstruktion der Kulisse, die Architektur des Setups. Wie geht das vonstatten?
Jemand, der in einem Museum von Durchgangszimmer zu Durchgangszimmer wandelt, erlebt im Moment, wenn er eine Tür durchquert, den Eindruck, die gesamte Wand falle um ihn herum in einer Kreislinie zusammen, aus der im nächsten Moment die Wand des Nachbarzimmers wie ein Zirkuszelt aufgezogen wird. Diesen Eindruck kann man nur schemenhaft wahrnehmen, weil er sich am Rande des Gesichtsfeldes abspielt. Wir können tatsächlich nach hinten gucken, zumindest ein Stück links und rechts.
Im sogenannten Raumwinkel des menschlichen Sehens verschwindet die Zimmerwand in dem Moment, in dem das Auge die Ebene berührt. Bliebe man beim Durchschreiten der Museumstür genau in der Tür stehen und blickte zur Seite, sähe man wie der Zimmermann zur Kontrolle seiner Arbeit an der Wand entlang: eine Linie. Das Gehirn verlängert sie ins Unendliche. Auch dorthin, wohin das Auge nicht mehr reicht, und nennt sie Gerade. Es postuliert einen Strahl von Licht, der sich entlang dieser Gerade bewegt, und das absolut gerade. Mit Lichtgeschwindigkeit.
Aber die Gerade ist ein Konstrukt. Wie die Relativitätstheorie zeigt, wenn man Geraden in den drei Raumrichtungen aufspannt und sich dann bewegt. Schon sind die Geraden nicht mehr gerade sondern verbogen, und alles, was dann folgt, um den Schaden zu reparieren, ist so komplex, dass man die Sache als Naturrätsel absondern muss: Raumkrümmung, Zeitdilatation. Gott versteckt sich hinter dubiosen Ecken im gekrümmten Raum.
Tatsächlich ist doch die Sache mit der Linie eine Annahme. Sie hilft uns, das Konzept Ebene zu erschaffen, das wiederum eine Ordnung in Ungeordnetes bringt. Die Wand im Museum ist eine Ebene so wie unser Fußboden, und wenn wir sie als solche annehmen, dann bleibt sie für immer und ewig erhalten. Morgen wird sie da sein, übermorgen, wann immer ich sie betrachte. Physikalisch gesehen existiert diese Fläche allerdings nicht.
Sie ist eine Vorstellung. In der Natur ist da nichs. Ähnlich wie in totalitären Staaten drei Menschen, die sich zufällig an der Bushaltestelle treffen, schon eine Dissidentengruppe sind, erkennt das Auge das, was es im Fluktuieren auffälligerweise erkennen will. Wand ist wichtig zu erkennen, denn ganz gleich, wie flüchtig und fluktuativ und was auch immer da konglomeriert, es ist nicht nützlich, dagegen zu rennen. Das lernt der Verstand, und so wird Wand - möglicherweise - für ein Rind schon der Stacheldraht. Gut möglich, dass ein Weidezaun in der Vorstellung eines Rindes bereits das Ende der Welt markiert, eine absolut gerade, sich bis ins geschlossene Unendliche erstreckende nahezu undurchdringliche Wand.
Wenn der Museumsbesucher die Wände in Gedanken hintereinander stapelt (Durchgangszimmer), und den Raum dazwischen gedanklich komprimiert, entsteht so eine Art von Laminat aus Ebenen, das im Kopf zur dritten Dimension zusammen wächst. Das ist unsere Welt.
Kein Platz für weitere Dimensionen. Physiker wie Feynman müssen nun kreativ sein, wenn es gilt, die fehlenden Dimensionen aufzuspüren, denn die braucht man für den (s.o.) aus widersprüchlichen Beobachtungen von Relativität. Entität und Quantitäten entstandenen Kollateralschaden unserer nicht verstandenen Realität. Also spinnt man alle weiteren Dimensionen um Haarwickler und versteckt sie in relativistischen Raumfugen. So bekommt die Vorstellung Wurmlöcher und durch die wird, wenn nicht der ganze Apfel faul, irgendwann einmal das Universum wieder rund und gut bereisbar. In unserer Vorstellung.
In unserer Vorstellung ist Bewegung der Wechsel dieser Ebenen. Wir gehen durch eine Tür, die Wand streift an uns vorbei, die nächste Wand, die dritte, das ist Bewegung. Wir reiten auf einem Strahl, der durch unser drittes Auge spießt, und hören, wie Ebene um Ebene an unseren Ohren vorbei streicht wie eine gewaltige Fliegenklatsche. Das in etwa ist die Substanz in Raumepisoden, in denen mit Warp geflogen wird. Man hört das Summen der Motoren, die Riesenfliegenklatschen und schließlich kollabiert alles in einem Schlauch, durch den die Kamera bunt und fröhlich an den Zielort gesaugt wird.
Gut, so ähnlich würde man sich eine Geburt vorstellen, wenn die Wahrnehmung des Säuglings ausreichte, sich über das Erlebte Rechenschaft abzulegen. Vielleicht ist diese Vorstellung gespeichert und kommt dann irgendwann beim erwachsenen Regisseur einer Spaceserie wieder hervor. Realität bleibt wohl eher auf der Strecke.
Auf der Strecke existiert Geschwindigkeit nicht. Auch das erkenntnistheoretisch ausgelutscht. Die Wahrnehmung ist in ihrem Bezugssystem stets in Ruhe. Das Drumherum suggeriert Geschwindigkeit. Der Wechsel der Eindrücke, das Brummen der Motoren, Fahrtwind ... Geschwindigkeit ist ein Bündel von Gesamteindrücken. Physikalisch ein Konstrukt, das sich mit dem Konstrukt Ort nicht vereinbaren lässt. Heisenberg hat das bereits mathematisch erwiesen. Ort und Geschwindigkeit sind konjugiert, verbunden. Über einen dritten unfassbaren Betrachtungsgegenstand: die Zeit.
Dass Zeit nicht ist, was wir uns darunter vorstellen, hat inzwischen jeder begriffen. Wir wissen ja nicht einmal, was Freizeit ist. Wir verkürzen oder verlängern beliebig Arbeiszeiten, Ausbildungszeiten, verschieben Sommer- und Winterzeiten und wundern uns, wenn wir plötzlich tot sind. Zeit ist in unserer Vorstellung der Raum zwischen den Museumstüren, wo die Wände Lebensjahre markieren, und wenn wir durch die Türen von einem Raum in den nächsten gehen (Einbahnstraße), haben wir Geburtstag. Vorne geht es rein, da sind auch die Toiletten, im Inneren gibt es viel zu sehen und hoffentlich mal die eine oder andere Sitzbank, und am Ende geht's durch eine dunkle Tür ins helle Licht.
Und dahinter kann man dann die Kataloge kaufen. Schön.
Dieses Ebenenmodell scheitert allerdings bereits am mathematischen Ideal. Denn auch das ist eine Vorstellung. Ein Ideal ist eine Grenzfläche von Beobachtungen, die niemals erreicht werden kann. Eine ideale Fläche hat noch niemand gesehen. Folglich stellt sich die Frage, ob nicht das Ideal bei der Betrachtung über einen Gegenstand gezogen wird wie eine Maske. Elvis lebt. Ich habe schon hunderte gesehen. Den idealen vielleicht nicht. Aber doch so gut wie.
So gut wie ist ein Bluff beim Poker. Wir haben hier fast eine Straße, die fast von vier Königen geschlagen wird, wäre da nicht ein Pärchen aus fast. Diesem Stoff, der alle Löcher kittet wie neurdings in schlecht gefliesten Bädern das Silikon. Man kann ein ganzes Haus aus Silikon zusammen kleben, man kann darin wohnen, alt werden und sterben. Unser Museum ist so ein Haus.
Realer Weise (real im Sinne von ehrlich) sollte man zugeben, dass diese Wand, durch die wir beim Geburtstag von einem Raum in den nächsten schreiten, keine Ebene ist, sondern eine Vorstellungsmembran. Gleich welcher Form. In unserer Vorstellung sehen wir, wenn wir in der Tür anhalten, die nächste Ebene gekrümmt, als würde eine Fliege auf einem Ei sitzen. Diese allernächste Membran hüllt unsere Zukunft ein wie ein Geburtstagsgeschenk. Wir sehen immer diese Geschenkverpackung an, meistens mit Skepsis. Denn was die Zukunft bringt, naja ...
Den Scheitelpunkt der Ebene (die nächste Tür, wenn der Raum schmal ist / die Schleife des Geburtstagsgeschenks Zukunft) können wir vielleicht schon mit dem ausgestreckten Arm berühren, aber links und rechts verzerrt sich die Ebene vor unseren Augen, denn wir sehen nicht daran entlang, sondern von oben darauf. Und je weiter die Teile der Wand von unserem Auge nach links, rechts, oben und unten entfernt sind (sagen wir, sie rückten bis ins Unendliche), um so weniger sehen wir von oben drauf, sondern wie bei unserer Geburtstagsebene seitlich daran entlang.
Das ist das Phänomen, das wir benennen, wenn wir behaupten, in der Unendlichkeit schnitten sich die Parallelen. Was also, wenn wir bis in die Unendlichkeit sehen könnten? Und die Wände wären alle parallel, halbtransparent und dicht an dicht gepackt, die Türen imaginäre Spionlöcher, und wir sollten dann unsere Realität beschreiben? Die ja mit unserer Vorstellungs-ideal-welt identisch ist?
Wir hätten eine Welt, die von unserem Auge durch eine irgendwie geformte Vorstellungsmembran in zwei Hälften geteilt wird, vorne und hinten. Diese Membran ist in unserer Vorstellung eine Ebene und diese hüllt eine unmerklich gekrümmt Ebene ein, in der eine noch mehr gekrümmte Ebene drin steckt wie eine Babuschka in der nächsten, und damit sie ineinander passen, sind die Ebenen, die weiter von uns entfernt sind, immer krümmer.
Auf einem Blatt Papier liegt eine Schale aus Pappe, darin ein halber Kürbis, in dem eine halbe Kokosnuss, darin ein Eierkarton, darin ein halbes Ei, darin immer weiter immer kleinere, immer mehr gekrümmte Objekte bis hin zur Unendlichkeit des gegenüberliegenden Punktes. Eine Zwiebel. Das ist unser Universum. Nach den mathematischen Abbildungsgesetzen. Und wenn wir genau sein wollen, gibt es zwei: die Vergangenheit ist die Zwiebel hinter dem Auge, die Zukunft ist die Zwiebel vor dem Auge.
Dazwischen Tränen.
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