Radieschen

Der Sommer vor 30 Jahren war etwa genauso heiß wie dieser. Ich wohnte in einem kleinen Nachbarort der Universitätsstadt Saarbrücken in einer stillgelegten Baufirma. Ein Dutzend Studenten waren dort - ich will mal sagen: untergebracht. Manche von ihnen treffe ich noch heute. Alle Studentenbuden (ehemalige Büros) waren im ersten Stock rund um einen zentralen Asphaltplatz angeordnet, der tagsüber von einem Reifenhändler genutzt wurde. Außerhalb der Geschäftszeiten wurde dort schon mal vereinzelt Schach gespielt. An besonderes heißen Tagen.

Ich studierte Physik. Erinnere mich noch dran, wie ein Kommilitone mit seinem elegant-blauen Schweitzer Rad auf dem Platz seine Runden drehte. Erste Begegnung mit einem echten Velo, also hochwertigem Material. Kriegt man heute an jeder Ecke, damals nicht. Ullrich, Zabel und Co. trainierten noch in der Volksrepublik, die Telekom hieß noch Post, und die Tour wurde von belgischen Kannibalen entschieden. Die Radsportszene war noch so dünn, dass sie zwischen zwei Grenzpfosten im Saarland zu passen schien. Ich überprüfte meinen Kontostand - Einkünfte aus Ferienjobs im Schichtbetrieb der chemischen Schwerindustrie. Reicht.

Insgesamt bauten wir etwa zwei Monate, wenn ich mich recht erinnere. Die grosse Entscheidung war italienisch oder französisch. Am Ende kam franzienisch dabei heraus. Rahmen von Gianni Motta (ob der aus der Familie des Eismanns stammt??), Komponenten von Simplex und Stronglight (das 'schöne' 107er), Chaossteuersatz mit Rollenlager und dem Sattelstützklemmbolzen (SaStüKleBo) von Campagnolo. Die Räder hatte ich anfangs verkehrt herum eingespeicht: eine zusätzliche Nacht Arbeit, und der Umwerfer war nicht lieferbar (vorderes Schaltwerk).

Im Oktober die erste Tour. Vorher noch schnell Radschuhe von Rivat gekauft und ab nach Paris. Wir hatten zu dieser Zeit alle 100 km einen Speichenbruch und Wasserflaschen in siebziger Jahre Farben. Der Sattel war rot. Und der Umwerfer fehlte immer noch. Also hielt man uns mit den unters Oberrohr getapten Ersatzspeichen im farbenfrohen Giro Techdress selbstfreilich für Profis. Die direkt am Zoll (gab es damals noch) das Innere der Wasserflaschen vorzuweisen hatten, denn sonst gab es ja kein Gepäck zum Kontrollieren.

Zwei Tage, 400 knüppelharte Kilometer, zwei Tage Paris, 400 zurück.

Dreißig Jahre später waren die Rivats in halb Deutschland, Schweiz, Österreich, Ungarn, Jugoslawien, Bulgarien, Italien, Frankreich, Belgien, Niederlande und beim Schuster, aber noch keinen Tag in der Mülltonne (wo sie eigentlich langsam hingehören). Und das Radieschen (erhielt seinen Namen im Juni 85 hauptsächlich der Farbe wegen) hat schätzungsweise 40-60 Tausend km gerannt.

Allmählich gehört auch das nun an die Wand geschraubt** ** ebay verkauft klassisches Material dieser Kategorie zum ursprünglichen Erstellungspreis: Null Zeitwertverlust, aber he: trotz zweier Unfälle liegt das Teil auf der Straße wie ein Brett. '85 pflegten wir die Rahmensteifigkeit regelmäßig zu testen, indem man neben dem Rad stehend, Hand an Lenker und Sattel, den Fuß gegen das Tretlager drückt. Es sollte ein wenig federnd nachgeben. Wenn ich das heute mache, sagt mein Knie: lass das!