Platz, Hirsch!
Ein neues Wort im Schatz: 'Alphajournalismus'. Der Spiegel schreibt zum ersten Todestag über Frank Schirrmacher und ein Pressephänomen. Seit Grass kennt die Literatur das Phänomen unter dem Namen 'Vordenker'. Die Informationswelt hat offenbar einen Hang zum Leithammelwesen. Inhalte treten hinter Galionsfiguren zurück. Wir brauchen Wortführer. Das Ende einer Ära hingegen sieht der Spiegel in der Zeit nach Schirrmacher gekommen.
Große Worte, heißt es, ... darin liege die Funktion der Alphatiere: Sie gehen voran, ihnen folgt die Herde. Nach Schirrmacher sei das deutsche Feuilleton wieder dort angelangt, wo der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer es gegen Ende der Achtzigerjahre vorgefunden hätte: Es ist, als hätte keiner ein Ziel.
Nun, wenn man sich die Debatten um Putin-Versteher ansieht und die Fragen der deutschen Auslandseinsätze: wie häufig präsentierten sich Journalisten auf dem neuen Terrain mit ihrem Fundus an Quellen und Informationen als Alleinherrscher der Materie, und wie selten unterfütterten sie die eigenen Ansprüche mit sachdienlichen Informationen. Informationen also, die es dem Leser ermöglichen, sich selbst eine unabhängige Meinung zu bilden - ganz abseits der großen Korrespondentennamen?
Dass der Alphajournalismus tot sei, ist wohl ein bisschen im Sinne des ersten Halbsatzes einer Floskel zu verstehen: der König ist tot ... die Profilneurosen bleiben. Man fragt sich: ist das eigentlich verwunderlich, wenn in einer schnell-lebigen Informationswelt jeder alles sagen kann, dass sich der Zuhörer dann nicht mehr mit der Mühsal der Informationen selbst beschäftigen will? Stattdessen will er blind dem vertrauen können, der gewöhnlich am meisten über die Materie weiß.
Gewöhnlich gut informierte Kreise sind dann auch die wenig transparenten Bezugspunkte, die über Herkunft und Hinscheiden von Informationen verantwortlich zeichnen. Journalisten etwa beziehen sich auf Aussagen, Erfahrungen oder Berichte, die am Rande informeller Gespräche nur von eben jenen Ohrenzeugen aufgeschnappt wurden. Man wird sicher nicht prüfen können, ob die Kanzlerin oder der Sicherheitsberater bei einem Drink mit Obama dieses oder jenes hätte verlauten lassen, oder ein Rüstungsunternehmer beim Besuch im Bordell eine Richtlinie entwarf. Man kann es staunend glauben und den Überträger der Information für seine Agilität im politisch gesellschaftlichen Networking bewundern.
Meinungsbildung verläuft dann kaskadenartig abwärts. Wer die frischesten Informationen des Platzhirsches am gründlichsten kolportiert, wird unter den Gläubigen wiederum der 'Vordenker' sein, und so ordnet sich die polit-ökonomisch-soziale Informationswelt ähnlich einer Leiter, von der es Weisheit regnet. Oder eben auch Unsinn, den sich irgendwer ganz oben aus den Fingern saugt.
Im aktuellen Focus stoße ich dann auf jenen denkwürdigen Satz über den Vater des Schauspielers Thomas Heinze: "Seinem Sohn ... lehrte er die Kunst der Leichtigkeit." Journalistische Leichtigkeit grenzt an Seichtigkeit, die sich hier vielleicht im sprachlichen Duktus manifestiert. Der Focus schreibt an anderer Stelle sehr schön über Psychopathen. Allerdings nicht über die "Ich bin dein Vater" - Negativen, sondern über sogenannte "funktionelle Psychopathen", denen es gelingt, ihre Egomanie zum eigenen und dem Vorteil ihrer Umwelt einzusetzen. Hirnchirurgen, heißt es da, seien auch darum so erfolgreich, weil sie bei ihrer Arbeit emotionslos schnibbelten, statt sich um menschliches Leid Gedanken zu machen. Vielleicht auch ein Markenzeichen des funktionell psychopathischen Ego-Journalisten?
Warum Menschen nun, ganz gleich in welchem Bereich, beständig nach Leitfiguren suchen, klären weder Spiegel noch Focus hinreichend auf, und auch im wissenschaftlichen Bereich (vgl. "
Gedankenlesen durch Schneckenstreicheln") zeigt sich ein fataler Hang zur Popikone des Wissens. Von diesen Menschen wird wohl grundlegend nur eins verlangt: dass sie unantastbar sind, also nicht mit herkömmlichen Methoden überprüfbar sein dürfen. Sie sind Gurus, Heilige oder Religionsstifter, aber nie der profanen Logik Unterworfene, denen jeder Bauer einen Irrtum nachweisen kann.
Information ist eben doch und vor allem kein technisches, sondern eher ein soziologisches Phänomen.
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